Coming-out der Aidsbewegung in Asien

Bei der Eröffnung der 10. Welt-Aids-Konferenz in Yokohama kamen Aidsopfer und Regierende Asiens aufeinander zu / Zwei Drittel der Teilnehmer sind aus asiatischen Ländern  ■ Aus Yokohama Georg Blume

Wäre Toshihiro Oishi nur einen Schritt weiter gegangen, als er nach einer zu Tränen rührenden Rede das Podium der 10. Welt-Aids- Konferenz verließ, dann hätte nicht der zufällig anwesende amerikanische Arzt, sondern Japans Premierministers Tomiichi Murayama, der mit offenen Armen unmittelbar zur Seite stand, den mutigsten Aktivisten der Anti-Aids- Bewegung seines Landes in die Arme nehmen müssen. In Japan, wo viele Menschen Aids noch immer für eine beliebig übertragbare Seuche halten und zudem körperliche Kontakte in aller Öffentlichkeit scheuen, wäre das eine Sensation gewesen. Die Konferenz von Yokohama hätte dann ihren Sinn erfüllt: Japans Regierung wäre in die Verantwortung genommen.

Doch auch ohne die symbolische Umarmung ist die internationale Aidsbewegung gestern vermutlich ein gutes Stück vorangekommen: Erstmals teilte gestern ein asiatischer Regierungschef mit einem HIV-Positiven-Aktivisten die Bühne. Mehr noch: Über allem wehte der Segen des japanischen Kronprinzen Naruhito, der mit Kronprinzessin Masako der Eröffnungszeremonie in Yokohama beiwohnte. Naruhito appellierte an die Zusammenarbeit mit Aidspatienten und HIV-Infizierten und forderte ein stärkeres Bewußtsein der Öffentlichkeit. In einem Land, wo Aidskranke in breiten Gesellschaftkreisen als Aussätzige behandelt werden und Krankenhäuser sich nicht scheuen, Aidskranke zum Schutz der übrigen Patienten abzuweisen, könnte die Intervention des Kronprinzen einen Durchbruch bedeuten.

Tatsächlich schienen sich die 10.000 Teilnehmer der 10. Welt- Aids-Konferenz in einem einig zu sein: Nicht spektakuläre Forschungsergebnisse sind in Yokohama zu erwarten, sondern allein die Tatsache, daß die Konferenz in diesem Jahr erstmals in Asien stattfindet, gilt als Ereignis.

„Die Ausbreitung der Epidemie verläuft in Süd- und Südostasien weltweit am schnellsten, aber sogar in Ostasien und im Pazifik, wo die Gesamtzahl der Infektionen gering bleibt, steigt die Zahl der HIV-Infektionen“, berichtete Hiroshi Nakajima, Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO). 17 Millionen Menschen sind nach Angaben der WHO heute mit HIV infiziert, drei Millionen mehr als noch im letzten Jahr während der Welt-Aids-Konferenz in Berlin. Von ihnen könnte die größte Zahl schon im Jahr 2000 in Asien leben.

In der Gesundheitspolitik der meisten asiatischen Länder hat diese beunruhigende Aussicht freilich bis heute kaum Niederschlag gefunden. „Wir müssen den Japanern zu dieser Konferenz gratulieren“, betonte deshalb die philippinische Aids-Aktivistin Teresita Bagasao. „Vor einem Jahr in Berlin hieß es ,Die Mauern um Aids einreißen‘. Heute ist in Asien eine Mauer der Ignoranz gefallen.“

Auch die Teilnehmerzahlen schienen das zu beweisen: zwei Drittel aus Asien und nur jeweils ein Sechstel aus den USA und Europa, während die Zahl der Afrikaner (246) wieder nicht ins Gewicht fiel. Für die 25jährige Stella aus Singapur, eine ehemalige Prostituierte, die heute in einer halblegalen Aidskampagne aktiv ist, markierte die Konferenz in Yokohama damit bereits einen entscheidenen Schritt nach vorn: „Wir sind Asiaten und als solche in unserer Sexualmoral konservativer als die meisten Europäer. Deshalb müssen wir unsere eigenen sozialen und politischen Lösungsansätze entwickeln, die bisher in der Aidsdiskussion keine Rolle spielten. Das könnte in Yokohama anders werden, denn Japan ist ein Teil von Asien.“ So positiv mochte das freilich Indu Dewan, die Leiterin des kommunalen Gesundheitsentwicklungszentrums von der nepalesischen Hauptstadt Katmandu, nicht sehen: „Bei uns wissen die Leute nicht einmal, wie ein Kondom benutzt wird. Doch an solch essentielle Fragen der Sexualerziehung und wie sie auf dem Hintergrund der unterschiedlichen kulturellen Bedingungen in Asien zu beantworten sind, reichen die wissenschaftlichen Erörterungen der Konferenz natürlich nicht heran.“

Michael Schreiber vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg ist freilich genau zu solchen wissenschaftlichen Gesprächen nach Yokohama gereist. „Pathogenese“ lautet für den deutschen Virologen das Stichwort der Konferenz, was heißen will: zurück zu den Grundlagen der Krankheitsentstehung. „Alle haben von Impfstoffen geredet, ohne zu wissen, wie die Krankheit wirklich verläuft“, kritisiert Schreiber den Verlauf der Expertendebatte. Heute hält er einen Vortrag über die Wirkungsmechanismen des HIV, wobei nur ein kleiner Kreis der spezialisierten Wissenschaftler seinen Ausführungen folgen kann.

Um so verständlicher war der Eröffnungsbericht von Toshihiro Oishi: „Ich habe versucht, mit meiner Familie und meinen Kollegen über meine Krankheit zu sprechen. Doch Japan ist für uns HIV-Infizierte eine schwierige Gesellschaft.“ Deutlicher muß ein Japaner kaum sprechen, um von unendlichem Leid zu berichten. Einer japanischen Zeitung hatte Oishi zuvor über die Reaktionen seiner Geschwister berichtet: Der älteste Bruder weinte nur. Der zweite Bruder beschimpfte ihn als eine Belastung für die ganze Familie. Der jüngste Bruder fragte, wie er selbst weiterleben solle. Nur die Schwester versicherte dem Geständigen: „Ich versteh' dich. Du wirst siegen.“