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Die Qual des „Miteinanderredens“

SPD-Kanzlerkandidat Scharping im Wahlkampf: Ein Mann ohne Charisma und volkstümliche Posen / Seine Reden sind ausgefeilt, doch kein Funke will überspringen ins Wahlvolk  ■ Aus Waren Michaela Schießl

Vielleicht ist dieser Wahlkampf doch auf Rudolf Scharping zugeschnitten. Schließlich ist der Kanzlerkandidat verrückt dannach, sich so richtig zu quälen, zu leiden, mit zusammengebissenen Zähnen klaglos auszuhalten. Jahrelang hat er diese Fähigkeit geübt, im Urlaub, wenn er die mörderische Bergetappe der Tour de France nachradelt. Weiterstrampeln, auch wenn es weh tut – der Sozialdemokrat hat wohl geahnt, daß er diese Fähigkeit auf seiner Deutschland- Tournee „Miteinander reden“ mehr als jede andere brauchen wird. Denn auch hier lauert die Schmerzgrenze. „Wir Politiker müssen wieder lernen, mit den Menschen zu reden“, ruft Scharping in die halbnackte Menge im Volksbad Waren am Müritzsee. Mit Mühe kann er den Lautsprecher übertönen, der die Läufer eines Triathlons begrüßt. „Da kommt die Nummer 75, willkommen! Da wackeln die Waden.“

Scharping erklimmt eine Bank. „Jeder Mensch verdient den gleichen Respekt, egal ob Ost oder West.“ Ungeduldig lauscht die Menge der Standardrede, die Scharping an diesem Tage schon zum dritten Mal hält. Die Schlange am Bierstand wird länger, die Wiese ist übersät mit Bananenschalen, Plastikbechern und zermanschten Pommes. „Wo isser denn? Den Kohl würd' man wenigstens sehen“, lallt einer. Endlich Fragestunde. „Herr Scharping, was ist mit Leuten, die in der DDR einen Arbeitsunfall hatten und nun in den Arsch gekniffen sind?“

„Herr Scharping, muß meine Oma weiter die hohe Miete zahlen, wenn Sie Bundeskanzler sind?“

„Wann kommt endlich der Lkw-Verkehr aufs Wasser, damit wir freie Fahrt haben?“

Da verzieht der Kandidat schon mal schmerzlich das Gesicht. Doch seine Antworten bleiben stereotyp. Er spult einfach zum entsprechenden Teil seiner Rede zurück, wiederholt die Worte. Kein Funke weit und breit, der da überspringen könnte, über den Wall aus Journalisten und Kamerateams in Volkes Seele hinein. Scharping läßt sich nicht aus der Reserve locken – weil er die Reserve, die die Leute mögen, schlicht nicht hat. Er ist das Gegenteil von volkstümlich, kein Staatsmann wie Schmidt, kein Machtgebilde wie Kohl. Kohl am Strand würde sofort zwei unschuldige Kinder auf die mächtigen Arme drapieren, bis der letzte Fotograf erschöpft wäre. Scharping dagegen kann nicht posen.

Er trägt schwer an der Last der Sozialdemokratie. Immer unter Brüdern sein, volksnah und kumpelhaft, dieser Anzug paßt ihm nicht, sooft er ihn auch anprobiert: „Jetzt erzähl' ich Ihnen mal was ganz Privates: Ich komme aus einer Familie mit sieben Kindern, mein Vater war manchmal arbeitslos, meine Mutter hielt uns mit Heimarbeit über Wasser.“ Das gefällt im Osten, doch euphorisiert ist niemand. Zu einstudiert wirken die großen Gesten des Kandidaten. Reißt er die Arme über dem Kopf zusammen, erinnert das an eine Aerobicstunde. Diese Arme wollen einfach nicht zum Mann gehören. Wie Fremdkörper agieren sie um ihn herum. Fassen verlegen an den Bart, verschränken sich abweisend vor der Brust, hängen konfirmandenhaft am Körper runter und tätscheln tapsig auf fremden Schultern herum. Scharping versucht, Distanz zu überwinden, indem er den Leuten auf die Pelle rückt. Bis auf zehn Zentimeter nähert sich der Bart seinem Gegenüber. Dann scheint ihm die Nähe unangenehmer zu sein als dem Opfer.

Scharping kennt seine Schwächen. Und er bekämpft sie mit seinen Mitteln. Herzlicher kann er nicht sein, mehr Temperament hat er nicht. So tut er das, was er kann: Situationen schnell begreifen und für sich nutzen. In Rheinsberg baute er in seine Rede sofort die Sorgen eines Kneipenbesitzers ein, der ihm Minuten vorher sein Leid geschildert hatte. Als ein Hochzeitspärchen vorbeiläuft, unterbricht sich Scharping und gratuliert. Als ihn eine Wespe angreift, versucht er's locker: „Paß bloß auf, sonst beiß' ich dich!“ Scharping kämpft an allen Fronten, zwanzig Stunden am Tag. Sein Kapital ist Fleiß, nicht Charisma. Er muß die Leute inhaltlich überzeugen. Doch wie nur, wenn seine Stimme jeden Satz tief dunkel enden läßt?

„Im Falle meines Wahlsieges wird es keinen Bombenabwurfplatz Wittstock mehr geben“, verspricht er in Gadow den Mitgliedern der Bürgerinitiative Freie Heide, die seit vier Jahren gegen die Übernahmepläne der Bundeswehr kämpft. Doch der Applaus bleibt verhalten. „Hier waren schon viele Minister, auch der Stolpe. Und passiert ist nichts“, sagt Aktivist Hermann Klaucke (72). „Schade, daß man Politikern nicht trauen kann“, findet Reinhard Ealchow (48), „ich wähle auf jeden Fall grün.“ Der Kandidat läßt sich keine Enttäuschung anmerken. Ab in den Bus, ab zum nächsten Termin. Zum Reden miteinander. Und Weiterstrampeln – auch wenn es weh tut.

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