„Schluß mit den Schuldzuweisungen!“

■ Der in Berlin lebende kubanische Schriftsteller Jesús Diaz über die sozialen Aufstände in Havanna, die Verantwortlichkeit Fidel Castros und die Fehler der internationalen Linken

taz: Sind die Ereignisse vom Freitag eine gezielte Provokation?

Jesús Diaz: Ich denke, es war eine spontane soziale Explosion. Es ist ja auch nicht das erste Mal. Vor einigen Monaten gab es so etwas schon einmal in Cojimar, einem Vorort Havannas, wo einige Jungen erschossen wurden, die versuchten, das Land zu verlassen. Ähnliches geschah in Altamar. Auch dort wurden die „Brigaden der schnellen Antwort“ eingesetzt. Und jetzt ist diese Situation auch in Havanna eingetreten. Wir stehen einer sehr heißen Lage gegenüber. Die ist aber nicht das Ergebnis irgendeiner Provokation, sondern der Verzweiflung der Leute über die Unmöglichkeit, ihren Lebensalltag in Kuba zu verbessern.

Fidel Castro macht die USA verantwortlich. Durch ihre restriktive Einreisepolitik würden solche Aktionen provoziert.

Das ist eine skandalöse Verfälschung. Die USA beschränken zwar die legale Einreise. Aber Castro muß sich doch fragen: Warum sind tausende von Menschen von der Idee besessen, zu fliehen? Warum sind sie denn so verzweifelt, daß sie die Flucht übers Meer antreten, wo die Chancen, den Tod zu finden, mindestens so groß sind wie die Chancen, anzukommen?

Was müßte die Regierung Fidel Castros unternehmen?

Sie müßte so viele Dinge machen, die sie nicht bereit ist zu tun. So einfache Sachen, wie den Privatbauern zu erlauben, anzubauen, was sie wollen, und ihre Waren auf dem Markt zu verkaufen. Das würde zumindest in kurzer Zeit die tragische Lebensmittelsituation erleichtern. Die Regierung müßte die politischen Gefangenen freilassen, das Recht auf Opposition einräumen, freie Wahlen anberaumen. Sie muß dem Land erlauben, zu essen und zu atmen. Man ißt und atmet ja heute nicht, und zwar nicht wegen des US-Embargos, sondern aufgrund der eigenen Unfähigkeit, die von der Regierung errichtete Diktatur zu verändern.

Wie wirken sich die Ereignisse vom Freitag auf die Möglichkeiten eines friedlichen Wandels auf Kuba aus?

Was heißt hier friedlich, wenn jegliche Opposition auf brutalste Weise unterdrückt wird? Man kann doch gar nicht mehr von einem friedlichen Wandel reden. Angesichts eines völlig ungleichen Kräfteverhältnisses zwischen unbewaffneten, verzweifelten Leuten und einem Heer, einem Innenministerium und einem in der Repression ausgebildeten Sicherheitsapparat wollen die Menschen nur noch weg. Alle reden vom Abhauen. Es gibt überhaupt keinen Spielraum für einen Dialog mit dieser Regierung.

Kann es in Kuba zu einer „chinesischen Lösung“ kommen?

Ich glaube ja. Wenn es so weiter geht, bin ich davon überzeugt, daß das möglich ist. Fidel Castro wird vor nichts zurückschrecken. Und die internationale Linke merkt das immer noch nicht, sondern unterstützt ihn weiterhin, spricht von Dialog und nimmt eine konziliante Haltung ein. Was kann es mit einer kriminellen Regierung wie dieser für einen Dialog geben?

Was müßten die Vereinigten Staaten tun? Sie fühlen sich bedroht durch Fidel Castros Ankündigung, die Menschen einfach ausreisen zu lassen.

Das ist ein Erpressungsversuch Fidel Castros. Ich denke, das Problem sollte unter Kubanern gelöst werden. Leider ist Fidel Castro eben noch immer derselbe, und seine Regierung verhindert jede Lösung. Das kubanische Volk wartet auf diese Veränderungen, und die Kubaner in Miami auch. Was soll die US-Regierung denn machen? Militärisch intervenieren und Fidel Castro damit die Möglichkeit geben, das ganze Volk gegen etwas zu mobilisieren, das auf Kuba niemand will?

Fidel Castro fordert immer wieder, das Embargo aufzuheben ...

Das ist doch die anti-nationalste Haltung, die man sich vorstellen kann! Wenn ich der autokratische Regent eines Landes bin, das eine Krise durchlebt, und ich habe eine Unmenge von Maßnahmen in der Hand, die ich selbst ergreifen kann – wie eben zum Beispiel die freien Bauernmärkte –, wie kann ich mich dann für jegliche Veränderung der Lebensbedingungen darauf zurückziehen, daß eine ausländische Regierung die Entscheidungen treffen soll? Warum treffe ich sie nicht selbst? Und dann verändert sich doch auch die internationale Situation, und das Embargo wird unhaltbar.

Dennoch die Frage: Was müßten die USA unternehmen? Denn das Embargo nutzt Fidel Castro doch auch, um seine Politik zu rechtfertigen.

Was Sie hören wollen, werde ich nicht sagen, denn das interessiert mich nicht! Was Sie hören wollen, ist die elendige Haltung der internationalen Linken: „Die USA sind schuld.“ Die Linke hat nie ihre eigene Verantwortung akzeptiert. Für das, was heute auf Kuba passiert, ist die kubanische Regierung verantwortlich. Sie muß die notwendigen Maßnahmen treffen und nicht andere beschuldigen. Diese ewigen Schuldzuweisungen sind doch nur Entschuldigung, um nichts zu unternehmen.