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: Anatomie des Skandals

„Der Skandal um Michael Jackson“, So., 22.25 Uhr, West 3

Michael Jackson – nein, danke. Nicht schon wieder; wer so denkt, ist Konsument: Er verkennt die Sachlage. In ihrem Feature über Scheckbuch-Journalismus interessieren sich Richard Ben Cramer und Thomas Lennon nicht für die reale Person des Michael Jackson. Ihr Film entläd sich wie eines jener Faktengewitter, das wir vom Kennedy-Mord gewohnt sind. Mit einem entscheidenden Unterschied: Kennedy gab es wirklich. Michael Jackson dagegen ist nur eine Computeranimation aus der virtuellen Realität. Deswegen taucht er in diesem Feature auch nur als Fotografie oder als Bildcollage in einem Videoclip auf: die Szene seines Wirkens.

Beeindruckend stellen Cramer und Lennon die Funktionsweise der Massenmedien im vergangenen August heraus: Die Story als Story erkannt haben Londoner Klatschblätter wie die Sun. Stunden nachdem die Durchsuchung im Haus Jackson durchgesickert war, starteten in Europa schon die Flugzeuge mit den Geldkoffern an Bord. Gegen große Summen Bargeld bestätigten immer neue „Zeugen“ Michaels Sauereien. US-amerikanischen TV-Stationen zogen interessanterweise erst dann nach, als London die Geschichte zum Kochen gebracht hatte.

Der Film des WDR blieb nicht bei der einfältigen Feststellung stehen, die ganze Jackson-Story sei ein Produkt der ruchlosen Presse-Hyänen. Vor der Kamera gaben die Chefredakteurin der Sun sowie der Reporter, der die Story zum Laufen brachte, bereitwillig und sachdienlich Auskunft. Das sind keine schmerbäuchigen Widerlinge mit geifernden Lefzen, sondern nette Jungs, die sachlich ihren Job darstellen. Plötzlich dämmert einem, daß diese modernen Skandalreporter gar keinen Grund mehr haben, sich wegen ihres Jobs zu schämen: Ob Michael Jackson selbst den Massenmendien-Verbund souverän ausnutzt, um Abermillionen von Schallplatten abzusetzen oder ob die Klatschreporter das Marken- Imperium Jackson wie virtuelle Piraten entern, um es kurzfristig anzuzapfen – da besteht kein Unterschied.

Michael Jacksons Bekanntheitsgrad ist nicht dessen Eigentum, sondern das Produkt einer multinational verzweigten Kult(ur)-Industrie. Das System der Medien gehört keinem einzigen allein. Ge- und Mißbrauch der Medienwelt sind zwei Seiten einer Medaille. Interessantes Feature. Manfred Riepe