„Wir werden die Geschichte verändern“

Der Industrielle Cem Boyner versucht, die Türkische Republik zu revolutionieren. Seine „Bewegung für neue Demokratie“ will Kurden und Islamisten in die politische Landschaft integrieren  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Die langhaarige, blonde Studentin hat Lampenfieber, als sie vor die rund tausend ZuhörerInnen in dem Istanbuler Konzertsaal Cemil Resit Rey tritt. „Wir forderten einen Raum. Der Raum wurde uns gestellt. Wir forderten die Realisierung unser Projekte. Unsere Projekte wurden realisiert.“ Die Istanbuler Auftaktveranstaltung der „Bewegung für neue Demokratie“, die sich im Herbst als politische Partei formieren will, war für türkische Verhältnisse, wo verknöcherte Männer in dunklen Anzügen das Rückgrat politischer Parteien bilden, unkonventionell erfrischend. Nach der Studentin tritt ein bärtiger Armenier auf. Einem Soziologieprofessor gleich doziert Etyem Mahcupyan, einer der Vordenker der Bewegung, über das Parteiensystem in der Türkei. Auf einer Leinwand wird ein Koordinatensystem eingeblendet. Die Horizontale geht von „Staat und Nation“ in Richtung „bürgerliche Gesellschaft/Individuum“, die Vertikale von „lokal/traditionell“ in Richtung „global und universal“. Fazit des Vortrags: Alle Parteien, egal ob dem Modernismus oder dem Traditionellen verschrieben, haben letztendlich ihren Platz an der Seite des Staates und wider das Individuum eingenommen. Die „Bewegung für neue Demokratie“ plaziert sich radikal an jenem Pol, an dem die „bürgerliche Gesellschaft“ und das „Individuum“ verzeichnet sind – doch in der Mitte zwischen „Traditionellem“ und „Universalem“. Schweigsam und bedächtig folgen die Zuhörer, junge Männer und Frauen der neuen urbanen Mittelschichten der Türkei, dem Vortrag.

Ganz leger, die Ärmel des weißen Hemdes hochgekrempelt und die Krawatte gelockert, tritt schließlich der Star an das Rednerpult. Er hätte gut als Präsidentschaftskandidat in die Politlandschaft der USA hineingepaßt. Der Textilindustrielle Cem Boyner, politischer Führer der Bewegung, ist ein brillanter Redner und der klassischen Politikergarde weit überlegen. Der 38jährige, der eine Zeitlang Chef des mächtigen Arbeitgeberverbandes „Tüsiad“ war, verhehlt nicht, daß er ein Mann des Systems ist. „Ich habe an diesem System verdient“, gesteht er. Doch nun sei das System „bankrott“. Boyner ist ein Mann der Mitte, ein Rechtsliberaler. Doch die türkische Politik hat aus dem Industriellen einen Systemveränderer gemacht. Das Programm der „Bewegung für neue Demokratie“ legt Dynamit an die Fundamente des politischen Systems der Türkei.

Die Kurdenpolitik des türkischen Staates – sie besteht faktisch in der Kriegführung des Generalstabes gegen die kurdische Guerilla PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), die von einem Allparteienblock im Parlament legitimiert wird – ist erstes Angriffsziel Boyners. „Könnt ihr mir ein Staat zeigen, der seit zehn Jahren seine eigenen Territorien bombardiert?“ fragt Boyner rhetorisch. Er giftet die Politiker an, die sich rühmen, „10.000 Terroristen“ getötet zu haben. „Das bedeutet nur, daß sie sich 200.000 neue Feinde geschaffen haben.“ Der Staat versuche wider alle Vernunft, die ethnische Identität seiner Bürger zu bestimmen. Ohne die Kurden, ohne Dialog sei der Kurdenkonflikt nicht zu lösen. „Im Deutschen Bundestag wird mehr über Kurden geredet als in unserem Parlament“, konstatiert Boyner belustigt.

Der Redner ist mit allen Wassern gewaschen. Scheinbar losgelöst von der kurdischen Frage, referiert er die politischen Biographien Nelson Mandelas und Jassir Arafats. Boyner spricht über die toten Soldaten, die in den kurdischen Regionen sterben. „Wir müssen den Menschen erklären, daß ihre Söhne für nichts sterben.“ Im eigentlichen Sinne gebe es kein „kurdisches Problem“, sondern ein „türkisches Problem“: „Den Kurden ihre Rechte zu geben ist keine große Reform oder ein demokratischer Schritt. Es ist die Rückgabe von Rechten, die der Staat ihnen vor 70 Jahren gestohlen hat.“ In kleinem Kreis wird Boyner noch deutlicher. „Heute ist die PKK eine terroristische Organisation. Aber ich weiß nicht, wie ihr Status im Jahr 1996 sein wird. Sie können den Status verändern, wir können den Status verändern.“ Ohne die Lösung der kurdischen Frage könne man „weder die Ökonomie reformieren noch eine Vereinigung mit Europa ins Auge fassen“. Für den Kompromiß mit den Kurden spricht in den Augen des Industriellen die kapitalistische Rationalität. 40 Prozent der türkischen Exporterlöse würden für den Krieg in Südostanatolien verpulvert, an dem nur die „Waffenlobby“ ein Interesse haben könne.

Auch die Positionen Boyners zum Thema Islam bilden einen gewaltigen Tabubruch. Der türkische Staat, der nur dem Anschein nach laizistisch sei, greife massiv in das religiöse Leben ein. Der Staat versuche nicht nur „ethnische Identität“, sondern auch „religiöse Identität“ zu bestimmen. Der Staat instrumentalisiere und gängele den Islam. Obwohl die türkische Verfassung die Trennung von Staat und Religion vorschreibt, existiere das staatliche „Amt für religiöse Angelegenheiten“, das die Kontrolle über alle Moscheen der sunnitischen Muslime innehat. Ebenso unterhält der Staat religiöse Schulen für sunnitische Muslime. Dem „Amt für religiöse Angelegenheiten“ und den staatlichen religiösen Schulen will Boyner den Garaus machen. „Der Staat hat sich da rauszuhalten. So wie die Armenier, die Juden, die alevitischen Muslime oder die Atheisten ihre Gemeinde haben, müssen auch sunnitische Muslime das Recht haben, über ihre religiösen Angelegenheiten selbst zu bestimmen.“ Boyner will den türkischen Muslimen Rechte einräumen, die ihnen lange verwehrt wurden. Eine Rechtsanwältin, die im Gerichtssaal ein Kopftuch tragen will, und ein Abgeordneter, der auf den Koran schwören will, würden nicht den Laizismus bedrohen. Auch könne die Zeit des Freitagsgebetes zur Mittagspause erklärt werden. Der Liberale Boyner meint, daß die Bekämpfung des politischen Islam nicht durch staatliche Kontrolle, sondern vielmehr durch geordneten Rückzug des Staates aus dem religiösen Leben bewerkstelligt werden muß.

Die „Bewegung für neue Demokratie“ verlangt einen großen, sozialen, politischen Kompromiß, an dem Kurden und Muslime beteiligt sind. Sonst drohe das Land in einem ethnischen Bürgerkrieg und im Konflikt zwischen Islamisten und Säkularisten zerrieben zu werden. Parallel zu dem Gesellschaftskompromiß müsse die Wirtschaft restrukturiert werden. Der Staat müsse sich aus der Ökonomie raushalten. „Privatisierung der staatlichen Betriebe“ heißt das Schlagwort. Boyner beherrscht die Bilder, mit denen er die antistaatliche Programmatik seiner Bewegung verkauft, genau: „Wer mit einem Elefanten ins Bett geht, nimmt in Kauf, erdrückt zu werden“ oder „Heilig ist nicht der Staat, heilig ist der Mensch“.

Boyner hetzt von Veranstaltung zu Veranstaltung, um seine Ideen zu verkaufen. Selbst in der anatolischen Provinz ist der Zuspruch enorm. Die lokalen mittelständischen Unternehmer arbeiten wie Keimzellen einer Partei, die sich spätestens im Herbst konstituieren soll. Die Ideologen der Bewegung repräsentieren mit ihren Biographien ein breites, politisches Spektrum. Ehemalige faschistische Politkader sind ebenso in Boyners Mannschaft wie Ex-Kommunisten, kurdische Intellektuelle und nicht zuletzt Wirtschaftsbosse und Bürokraten, die die etablierten Parteien leid sind. Das Timing scheint perfekt. Die Vorbereitungen zur Parteigründung fallen in eine Zeit, in der die Parteien der Mitte zerrieben werden. Bescheiden ist Boyner nicht: „Wir werden die Geschichte verändern. Wir brauchen nur 45 Prozent der Stimmen.“ Nicht ohne Neid erinnert er sich an den verstorbenen Turgut Özal, der als Ministerpräsident und später als Staatspräsident im Amt war: „Özal hat mit Shorts eine Militärparade abgenommen. Er konnte das nur, weil er 45 Prozent im Rücken hatte.“