Reise zurück in die Zukunft

Dreimal wöchentlich fährt ein Militärzug mit russischen Soldaten von Wünsdorf direkt nach Moskau / Große und kleine Abschiedsdramen beobachtete  ■ Thorsten Schmitz

Juri ist der coolste. Den Walkman bis zum Anschlag aufgedreht, die Baseballkappe falsch rum, die Nike-Turnschuhe modisch offen, und unermüdlich kaut er seine Wrigley's. Inmitten von Koffern, rot-blau-weißen Plastiktaschen und Rucksäcken hockt der 16jährige auf einer Bank am Bahnsteig Wünsdorf. Um ihn herum versinkt die Welt im Abschiedstaumel, Juri verzieht nicht eine Miene. Alles ist ihm egal. Was er in Moskau soll, wo er in drei Tagen an einem Nachmittag ankommen wird, ist ihm schleierhaft. Und sowieso ist er genervt. Juri, der schöne Held, kann sich was Besseres vorstellen, als in der Abendhitze auf die Abfahrt des russischen Militärzugs zu warten.

Dreimal wöchentlich vollzieht sich in dem 2.500-Seelen-Dorf Wünsdorf ein Abschied auf Raten. Von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, verlassen montags, mittwochs und freitags, immer abends um zehn nach sieben, Angehörige der Westgruppe der einst sowjetischen, jetzt russischen Streitkräfte die Militärzentrale. In ihr sollen zeitweise bis zu siebzigtausend Menschen gelebt haben, vom Rest der Welt durch Mauer und Stacheldraht abgeschnitten. Jetzt sind es nur noch dreitausend, die, peu à peu, ihre Koffer packen und Wünsdorf, das ansonsten aus einer Kreuzung, drei Imbißbuden und einem Bahnhof besteht, den Rücken kehren.

Es ist Freitag, 15 Uhr. Ein russischer Soldat kehrt den Bahnsteig, fünf junge Rekruten verstauen die Habseligkeiten im letzten Zugwaggon, dem Laderaum. Sie haben es gewagt, bei 37 Grad ihre Oberhemden auszuziehen, während sie Matratzen, Waschbecken und rohes Holz verfrachten. Bis ein Oberst kommt und sie anblafft, sie sollen ihre Uniform nicht lächerlich machen mit entblößter Brust. Es wird ihr letzter Anschiß sein, soviel ist sicher.

Wenig später füllt sich der Bahnsteig zusehends. Bepackt bis obenhin, pilgern die Ukrainer, Russen und Georgier von der nahe gelegenen Kaserne zu Fuß zum Bahnsteig, der am 1. Mai 1977 eigens für die Sowjets in Betrieb genommen wurde. Am 25. September tritt von hier der allerletzte Zug die Reise ins 1.929 Kilometer entfernte Moskau an.

Vor den Zugtüren bilden sich riesige Inseln aus Aldi-Tüten, rostigen Holland-Rädern, „Dalli“- Waschmittelpaketen und Standheizungen für Autos. Überall knallen Aprikosensekt-Korken, in Plastikbechern wird lauwarmer Wodka rumgereicht, dazu butterweiche Likör-Pralinen.

Im Halbschatten hat Natascha ein Picknick improvisiert: auf ihrem Fernseher, den sie mit einer Gardine eingepackt hat, kredenzt sie Toastbrot, Salami und Gurkenscheiben. Natascha ist 43 Jahre alt, Mutter dreier Kinder und mit einem Major verheiratet. Sie kommt aus Nischni Nowgorod, dort leben auch ihre Eltern. „Zurück zu Mama und Papa“, antwortet sie auf die Frage, wohin die Reise zurück in die Zukunft geht. Besonders betrübt ist sie nicht, nach vier Jahren Deutschland wieder zu gehen. Deutsche hat sie ohnehin nie kennengelernt.

Außerdem war das Leben in der 600 Hektar großen Garnisonsstadt so russisch, daß sie gar nicht das Gefühl hat, den Ort zu wechseln. Vielleicht hätte Natascha noch mehr erzählt, aber ihr Mann will das nicht. „Nie haben sich Deutsche um uns gekümmert“, meint er, „ausgerechnet jetzt, wenn wir gehen, kommen sie plötzlich.“ Auf seinem T-Shirt prangt die US-amerikanische Flagge.

Für Wünsdorf bedeutet der kollektive Abzug den finanziellen Ruin: von den Russen hat man gut gelebt, auch wenn man nicht mit ihnen gelebt hat. Der Besitzer des einzigen Schuhgeschäfts wird seinen Laden wohl „dichtmachen“, sagt er, drei andere Geschäfte hätten schon aufgegeben.

Im Gepäck: Rote Paprika und klebrige Limonade

Inzwischen ist Juris Freundin Natascha aufgetaucht, und die beiden hocken umklammert auf der Bahnsteigbank, als ginge die Welt unter. Sie reden nicht, Natascha weint. Für die Fahrt hat sie ihm eine Kassette aufgenommen. Mit Musik von Depeche Mode, die unter russischen Jugendlichen derzeit hoch im Kurs steht. Natascha fährt am kommenden Freitag nach Wolgograd. Ob die beiden sich je wiedersehen, wer weiß das schon.

Juris Eltern haben ihr besenkammerkleines Abteil bereits bezogen. Sie lugen zwischen den Vorhängen aus Geschirrtüchern auf das Paar und gucken, als fürchteten sie, ihr Sohn bleibe für den Rest seines Lebens auf dem Bahnsteig sitzen.

In der kleinen Bahnhofsbaracke hat sich unterdessen eine Schlange gebildet. Schnell wird noch Proviant gekauft für die Reise im nicht klimatisierten Zug: rote Paprika, Zitronen, geräucherter Fisch, Piroggen, Ringelwurst. Die Finger der Verkäuferin betätigen in Windeseile den Rechenschieber, Mineralwasser hat sie heute nicht, nur klebrige Orangenlimonade. Eine Zwei-Liter-Flasche Sangria-Gemisch kostet 98 Pfennige.

Pawel, 24, steht an diesem Nachmittag schon zum dritten Mal in der Schlange. Er repariert, mitten auf dem Bahnsteig, den BMW eines Freundes. Mit Hilfe von Büchsenbier scheint das besser zu gehen. Pawel würde nie mit diesem gebrechlichen Zug nach Moskau fahren. Das wäre ihm zu eng, zu stickig. Zu „traurig“ auch. Er wird, nächste Woche, mit einem Golf nach Moskau rasen. Woher er den hat, verschweigt er. (Einfache Soldaten wie er, die „Kuschoten“, kriegen nur 50 Mark im Monat.)

Eine halbe Stunde vor der Abfahrt taucht doch noch ein deutsches Abschiedskomitee auf: lauter brave Mädchen von der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde, Sektion Cottbus, und den Zeugen Jehovas. Sie verteilen den Wachtturm auf russisch und Bücher mit dem Titel „Jesus – unser Schicksal“. Die so unverhofft Beschenkten bedanken sich höflich. Und fächern sich mit den Broschüren Luft zu.

Von dieser christlichen Gabe und dem letzten Eindruck, den die Russen verpaßt bekommen, kriegt Juri nichts mehr mit. Um 19 Uhr 14, der olivgrüne Zug setzt sich in Bewegung, hat er inmitten Hunderter winkender und rufender Menschen nur noch Augen für Natascha. Und jetzt endlich kommen sogar Juri, dem coolen Helden, ein paar Tränen.