Immer dieselbe Masche

■ Erst ein Tempolauf, dann ein Striptease, doch Linford Christie, der Sprint-Europameister, hat seine Probleme

Berlin (taz) – Als der Ungar Noszaly beim Stuttgarter Weissenhof-Turnier den Oberkörper entblößte, ging ein kollektiver Aufschrei über den Centre Court. Der Fan, die Frau, war beeindruckt, nachgerade in Ekstase, und hernach zutiefst betrübt, daß ein gewisser Bernd Karbacher, den manche Schwiegermama erst einmal zum Friseur schicken würde, den wahren Schönling mir nichts dir nichts aus dem Wettbewerb beförderte. Was Noszaly, der Qualifikant, so Aufregendes zu bieten hatte? Formvollendete Bauchmuskuli, Mann oh Mann. Meine Herren Mannequins von Calvin Klein und Konsorten, da könntet Ihr Euch eine Scheibe von abschneiden!

Die Schwaben, die spinnen, muß sich Linford Christie am Montag abend in Helsinki gedacht haben. Was dieser Schlägertyp aus Stuttgart kann, kann ich schon lange. Und obendrein habe ich viel mehr zu bieten – viele schöne dicke Pakete, nicht nur Bauchmuckis, nein, nein, auch einen überaus ausgebildeten gluteus maximus, welcher außer für viel Power in den Beinen auch für einen knackigen Herrenpopo sorgt, auf den nach einer Umfrage des Fitneß-Magazins Fit for Fun das schwache Geschlecht ja doch zu 30 Prozent abfährt. Also nix wie runter mit dem Leibchen.

Und dann? – No reaction auf den Exhibitionismus des Europameisters. Keine Oh, keine Ahs. Nix! Ganz schön vernichtend. So umwerfend, daß sich das verschmähte Sprint-Model flugs ein für den Fall der Fälle vorbereitetes T-Shirt überstreifte: 3 x Gold: 1986, 1990 und 1994, stand drauf zu lesen. Dreimal hintereinander der schnellste Mann Europas. Ob das wenigstens mehr hergibt?

Wirklich schwer zu sagen, ob ZuschauerInnen einfach weniger auf massige Sportler stehen. Vielleicht turnt sie ja auch bloß zuviel Routine auf der Tartanbahn ab. Immer die gleiche Masche: Zum Vorspiel ein kraftvoller Tempolauf, eventuell Fehlstarts (3) zur Abwechslung, dann geht's gleich zur Sache: raus aus dem bißchen Textil, und schon soll frau jubilieren. Vielleicht aber werden Sprinter auch nur von einer manischen Trikot-Allergie heimgesucht. Wie sonst könnte sich eine schwäbische Hausfrau erklären, daß sich jene in schöner Regelmäßigkeit kurz nach dem Überqueren der Ziellinie das ohnehin stofflich recht dürftige Leibchen vom Körper reißen müssen? Triefnaß und reif für die Waschmaschine wie das Hemd der Herren Tennisspieler kann es nach zehnsekündigem Benutzen (Linford Christie trug es exakt 10,14 Sekunden) jedenfalls nicht gewesen sein.

Vielleicht ist auch alles ganz anders, und Linford Christie, der Olympiasieger von Barcelona 1992, befindet sich in einer psychisch deformierenden midlife crisis. Ist auch nicht so einfach: Jeder Mensch mit einem Notizblock oder Mikro unterm Arm, befragt den 34jährigen sorgenvoll nach dessen wertem Wohlbefinden: „Wie lange machst du es noch?“ Bei so viel Altersfürsorge und parallel auftretenden kleineren Verletzungen (zuletzt vor drei Wochen) muß einer doch von ganz allein juvenile Anwandlungen bekommen! Kann er noch so genervt behaupten, er mache es schon noch bis zu den Olympischen Spielen von Atlanta 1996 und trotzig versichern: „Ich habe kein Problem, vielleicht sind auch die Youngsters einfach zu jung.“

Nicht doch, Linford. Schließlich gibt Dir die Wissenschaft Rückendeckung: „Sport ist kein Privileg der Jugend“, hat Achim Conzelmann in seiner Studie zur Seniorenleichtathletik herausgefunden. Der altersbedingte biologische Abbau könne durch „altersgerechte, richtig betriebene Aufbauarbeit“ aufgehalten werden. Ein Beispiel: 1977 sprintete Peter Mirkes (damals 50!) die 100 Meter in 11,3 Sekunden. Fünf Jahre später nur vier Zehntel langsamer. Kopf hoch, Christie! Achim Conzelmann hat sich zuvörderst mit 45- bis 90jährigen beschäftigt. Bis zu den Spielen im Jahr 2008 hast Du noch eine Weile Zeit. coh

EM-Ergebnisse: 100 m, Männer: 1. Christie (England) 10,14 sec.; 2. Moen (Norwegen) 10,20; 6. M. Blume (Wattenscheid) 10,40; 100 m, Frauen: 1. Priwalowa (Rußl.) 11,02 sec.; 2. Tarnopolskaja (Ukraine) 11,10; 3. Melanie Paschke (Braunschweig) 11,28