■ Tun und Lassen
: Zeigen, Schauen

Aufgebracht berichtete neulich die Kollegin von ihrem ersten Besuch im Freibad seit mehreren Jahren: Eine neue Spezies Männer sei ihr da aufgefallen, Fremde, schwer zu sagen woher. Behelfsweise nannte sie die Männer „Ostler“, eine irreführende Bezeichnung: Nicht unsere Landsleute aus dem Beitrittsgebiet waren gemeint, sondern Osteuropäer – Albaner? Rumänen? Bulgaren? Was sie als Fremde kenntlich machte, war nicht so sehr ihr Aussehen als vielmehr ihr Verhalten. Sie glotzten. Spannten ungehemmt. Sie konzentrierten sich regelrecht auf die weiblichen Reizzonen.

Ist das denn im Freibad etwa nicht erlaubt? Mitnichten! Und darf sich etwa übers starre Angeglotztwerden beschweren, wer sich hier ausbreitet? Allerdings!

Das Freibad ist nämlich eine Form der Vergesellschaftung, und wer sich in sie hineinbegibt, unterliegt einem Vertrag, einer ungeschriebenen Badeordnung. Das Freibad gehört einem Typus der sozialen Ordnung an, den die Ethnologen als „Gabentausch“ bezeichnen. Die Hauptvorschrift dieser Ordnung besagt, daß jede Gabe mit einer Gegengabe beantwortet werden muß. Im Alltagsleben unterliegen wir einer anderen Ordnung, dem geldgesteuerten „Äquivalententausch“ – hier kann man für ein meist geringes Eintrittsgeld in gewisse Etablissements den Anblick fremden Fleisches kaufen. In der Welt des Gabentausches gibt es diese Möglichkeit nicht; man wird nie quitt. Hier gibt es kein Medium, keine Währung, in dem sich die beiderseitigen Leistungen abgleichen lassen. Die Gegengabe, mit der eine Gabe beantwortet wird, schafft gleich wieder eine neue Verpflichtung.

Wer schauen will, muß zeigen, so lautet Artikel 1 der geheimen Badeordnung. Wer sich im Freibad allzu sehr ziert, bricht den Vertrag ebenso wie der Spanner, der am liebsten ein unsichtbares Auge sein möchte. Das ist den meisten natürlich längst geläufig, wenn auch den „Ostlern“ noch nicht: Die glauben, sie befänden sich in der Welt des Äquivalententauschs – wer bezahlt hat, darf glotzen. König Kunde. Artikel 2 der geheimen Badeordnung ist weniger bekannt: Wem gezeigt wird, der muß schauen. Wer eine Gabe ablehnt, brüskiert sein Gegenüber. Es ist nicht erlaubt, sich allzu tief in Bücher zu versenken, nicht erlaubt, den Frauen nicht auf den Busen, den Männern nicht auf den Hintern oder eine andere Zone freier Wahl zu schauen. Viktor Sinn