■ Jelzins Gang in die Neue Wache
: Eigene Opfer verhöhnt

Bundeskanzler Helmut Kohl darf sich freuen. Sein Duz- und Saunafreund Boris Jelzin wird als erstes ausländisches Staatsoberhaupt in der Neuen Wache einen Kranz niederlegen. Die Umgestaltung zu einer bundesdeutschen Gedenkstätte war Kohls Projekt. Erst unter dem Druck der Öffentlichkeit und auf Intervention des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, ließ er zusätzlich zur Inschrift für die „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ zwei Plaketten am Eingang des Gebäudes anbringen, in denen die Opfergruppen namentlich kenntlich gemacht wurden. Trotz dieser Differenzierung bleibt der Umstand, daß die Neue Wache den Geist der Kohlschen Versöhnung ausstrahlt, der den ermordeten KZ-Häftling mit dem SS-Mann, dem Vertriebenen oder dem Opfer stalinistischer Herrschaft gleichsetzt. Vielleicht liegt gerade darin eine mögliche Erklärung für Jelzins Entschluß: Auch in seinem Land gibt es nicht wenige, die braune und rote Herrschaft umstandslos gleichsetzen. Im Kontrast zur kürzlichen Berlinvisite des US-Präsidenten erhält das Ereignis zusätzliche Bedeutung. Demonstrativ hatte Bill Clinton die Neue Wache rechts liegenlassen und statt dessen die Jüdische Synagoge in der Oranienburger Straße aufgesucht. Noch zu gut erinnerte man sich in den USA an die gemeinsame Zeremonie des früheren US-Präsidenten Ronald Reagan und Kohl 1985 in Bitburg. Die Tatsache, daß dort auch SS-Angehörige liegen, hatte eine heftige innenpolitische Debatte ausgelöst. Was auch immer Jelzins Motive sein mögen: Mit seinem Entschluß, Kohls Versöhnungsort die internationale Anerkennung zu verschaffen, verhöhnt er die 20 Millionen Menschen, die dem deutschen Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges zum Opfer fielen. Severin Weiland