■ Über die skandalöse Mannheimer Urteilsbegründung hinausgedacht
: Die wahre Auschwitz-Lüge

Im September 1979 entschied der Bundesgerichtshof die Klage eines Neunundzwanzigjährigen, der auf einer Plakatwand seines Anwesens Flugblätter angeheftet fand mit dem Aufruf, daß die Ermordung von Millionen Juden im Dritten Reich ein zionistischer Schwindel sei, welcher nicht länger hingenommen werden könne. Der Kläger beantragte, dem beklagten Nationalsozialisten diese Äußerung zu untersagen, weil sie seine und seines Großvaters Ehre verletze, der in Auschwitz getötet worden sei.

„Die Dokumente über die Vernichtung von Millionen Juden“, beschied damals der 6. Zivilsenat, „sind erdrückend.“ Niemand genieße ein Recht, unwahre Behauptungen darüber aufzustellen. „Das entsetzliche Geschehen prägt in der Bundesrepublik das Bild ihrer Bürger jüdischer Abstammung schlechthin; sie verkörpern diese Vergangenheit...“

Sie tun dies nahezu allein, denn die Urheber, Befürworter und Beiwohner des entsetzlichen Geschehens haben sich jeder Verkörperung entzogen. Kaum einer von ihnen hat es gewußt, gewollt oder getan. Demzufolge hätte auch nichts stattgefunden. Die Hitler-Süchtigen aller Zungen haben außer dieser Beteuerung der Nation das einzig schlüssige Resümee gezogen: die Auschwitz-Leugnung.

Die widersprechenden Dokumente sind, wie der Bundesgerichtshof damals zu Recht konstatierte, erdrückend. Sie haben nur niemanden erdrückt. Sie sind den Bundesdeutschen, insbesondere denen im Bundesgerichtshof, nicht sonderlich zur Last gefallen. Ein wahrlich erdrückendes Dokument, das Protokoll der Wannsee- Konferenz, hat nicht zur Anklage nur eines ihrer Teilnehmer genötigt. Den Staatssekretären Leibbrandt und Neumann verblieb statt dessen der ungeschmälerte Pensionsanspruch. Am Diskutieren von Vernichtungsabsichten ist noch kein Jude gestorben. Das war herrschende Rechtsprechung. Undiskutabel ist nur die Vernichtungstatsache. Wer sie plant, ist straffrei bis hinein in die Wannsee- Konferenz.

Strafbar ist nur die Leugnung einer so gut wie ungestraft gebliebenen Endlösung. Wer sie eine Erfindung nennt, „spricht den Juden einen Teil ihrer Würde, das unmenschliche Schicksal ab“, das ihnen scheinbar nicht von Menschenhand teilhaftig wurde. Die Würde der deutschen Juden wird hingegen nicht verletzt, indem sie etwa Leibbrandts und Neumanns Pensionsfonds mitfinanzieren. Nein, der Jude muß als Personifikation der deutschen Unheilsgeschichte in Schutz genommen werden, weil sie ansonsten der Auschwitz-Leugnung anheimzufallen droht.

„Wenn der Verstorbene sein Leben als Opfer der nationalsozialistischen oder einer anderen Gewalt- und Willkürherrschaft verloren hat und die Verunglimpfung damit zusammenhängt“, verlangt Paragraph 194 StGB ihre Verfolgung von Amts wegen.

Regierung und Opposition stimmten seither darin überein, daß „die Leugnung nationalsozialistischer Untaten den öffentlichen Frieden berührt“ und geeignet sei, „das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung zu kränken“. Eine skurrile Ansicht. Warum störte es den öffentlichen Frieden jahrzehntelang nicht, daß die fraglichen Mordtaten eisern abgestritten wurden, insoweit sie den Deutschen im Zustand der Bewußtlosigkeit widerfahren sein sollten?

Was war demgegenüber Anstößiges an den wenigen Tölpeln, die Auschwitz zur Lüge erklärten? Ihre Botschaft läßt stutzen. Hitlers Lebenswerk, die Judenvernichtung, wird von seinen Gläubigen keineswegs gebilligt. Solche Abscheulichkeiten begeht der Führer nicht. Was nahezu alle Volksgenossen nicht wußten, wollten und taten, hat auch Hitler nicht gewußt, gewollt und getan. Warum auch? Er wäre dazu nicht imstande gewesen, selbst mit noch soviel KZ-Bestien an seiner Ferse.

Die Auschwitz-Leugner halten die subjektive Ausflucht der Deutschen für eine objektive Geschichtstatsache. Sie sind die einzigen, die ihren Landsleuten ganz vertrauen. Nicht Hitler und Himmler glauben sie, die unentwegt vom Judenausmerzen schwadronieren, sie glauben ihrem Volk, das sich dazu nicht hergibt. Warum nur besteht dieses Volk ab 1982 bei Gefängnisstrafe auf der Wirklichkeit einer Tat, die es nie getan hat?

Warum ist der öffentliche Friede dahin, wenn den Juden ihre Vernichtung abgesprochen wird? Sie wären demzufolge noch alle lebendig beziehungsweise in Ruhe entschlafen. Eine schöne, wenn auch irrige Vorstellung. Warum verlangt der deutsche Gerechtigkeitssinn ausgerechnet nach ihrer Bestrafung, nicht aber nach Bestrafung des Verbrechens? Das ist schwer zu sagen.

Rückblickend wähnten die Volksgenossen, das Dritte Reich sei Subjekt wie Objekt eines mörderischen Verhängnisses geworden. Das Reich und die sechs Millionen fanden auf dieser Welt keine Heimat. Das Reich wurde halb entdeutscht, Europa halb entjudet. Die Reichsstädte wurden phosphorisiert, die Juden vergast. Sie verloren ihr Leben in Oberschlesien. Und Oberschlesien ist verloren. Was vermöchte die nationale Ohnmachtserfahrung in dem Flammenmeer von Hamburg und Dresden, in den Flüchtlingstrecks auf der Route der Roten Armee Entsprechendes zu assoziieren, wenn nicht die Allmachtserfahrung der SS-Rudel am Zyklon- B-Schacht.

Neben den zahllosen beklagenswerten Kriegsverlusten wird eines ebenso beklagt, doch nicht als Verlust: die Schlacht bei Auschwitz. Der Verrechnungsdeutsche bucht sie unter den traurigeren Kriegsereignissen zwischen Coventry und Stalingrad.

Erst in der Generation der nach 1960 Geborenen ist eine Unlust an den Tag getreten, die Judenvernichtung weiter in die Trauer um die Kriegsopfer einzuschließen. Als Pendant der Auschwitz-Leugnung ist in den Schulen der Bundesrepublik ein fatales Unterhaltungsgenre entstanden, der Holocaust-Witz. Er amüsiert sich über eben jenes, was die Auschwitz- Lüge leugnet, die Ausrottung. „Wie viele Juden“, fragt der Spaßmacher, „passen in einen Volkswagen? Vierhundert. Zwei auf den Vordersitz, zwei auf den Rücksitz und der Rest in den Aschenbecher.“ Oder: „Wie viele Juden haben an der Olympiade 1936 teilgenommen? 7.000: 3.000 für die Aschenbahn und 4.000 für das Olympische Feuer.“

Holocaust-Witz und Auschwitz- Leugnung sind ungeschlachte Experimente des Mobs, sich der amtlichen Weinerlichkeit zu entschlagen, mit der des Kriegsresultats bislang gedacht worden ist.

Die Leugnung zeigt den Pöbel von der pfiffigen, der Witz von der zotigen Seite. Pfiffig persifliert die „Auschwitz-Lüge“ das fanatische Nicht-Wissen der Bundesdeutschen, das ja selbst nur die Fortsetzung der Hitlerschen Abschirmung war. Was man nicht wissen durfte, allenfalls billigen oder dulden sollte, hat man ganz vorschriftsmäßig nicht gewußt. Die Zote wiederum gibt die heimliche Kenntnis des Verbotenen preis. Die Bilder des Zu-Seife-Verkochens und Durch-den-Schornstein-Gehens der Juden waren in eben jener Häme schon den Zeitgenossen geläufig und vergnüglich, wie sie der Holocaust-Witz lüstern auffrischt.

Es gehen dem Mob die Augen vor Freude über, wenn er sich das Menschenpulver im Aschenbecher ausmalt. Asche, Rauch, Feuer, Schornstein sind die beständigen Reizmomente des Holocaust-Witzes, der seine Komik aus der Reduktion des Judenvolkes zu Brandabfall schöpft. Eine Allmachtsphantasie von Ohnmächtigen, die sich am puren Gelingen vergnügt.

Ein Dresden-Witz hingegen entbehrt der Schadenfreude und ist darum unmöglich. Nur eingeäscherte Juden kompensieren die Ohnmacht und reizen mithin zum erlösenden Gelächter. Der Spaß an der gelungenen Vergeltung öffnet den versiegelten Mund und offenbart die stille Genugtuung.

Solches quillt nur am Außenrand der Gesellschaft hervor, die sich in der übergroßen Mehrheit einen gütigen Blick auf das Opfermilieu angewöhnt hat, das dem Bundesgerichtshof zufolge die „Vergangenheit verkörpert“. Vergegenwärtigung der Vergangenheit, die staatsbürgerlich heute erbetene „Trauerarbeit“ besteht im Versenken in das Martyrium. Alle Aufmerksamkeit gilt der Pein der Gemarterten. Die Tätergruppe ist nicht halb so interessant. Immer führt die Pilgerfahrt zum Exekutionsplatz der Opfer, nie zum Ruhesitz der Henker. Ihre Erdenspur weckt keinerlei Neugier. Im Gegenteil, wer will davon hören? Die Opfer hingegen, sofern sie tot sind und kein Geld kosten, werden reliquienhaft gehegt. Auf Film festgehaltene Stationen ihres Passionswegs rollen als Endlosschleife über die Fernsehschirme.

Sorgsam konservierte Folterkeller der Gestapo, Deportationsbahnhöfe und Vernichtungslager ziehen den Blick des schaudernden Pilgers wie in das frische Grab. Die lebendige Anteilnahme am Los der Ausgelöschten bei vollendetem Desinteresse an Namen und Geschick der Veranstalter des Grauens mutet widersinnig an.

Warum ist das NS-Verbrechen in zwei getrennten Welten überkommen? Erstens der physisch erloschenen, aber als Angedenken der Verstorbenen im Sinne von § 194 StGB präsenten und umhegten Opferwelt, zweitens der physisch erhaltenen, aber der Erinnerung weitgehend entfallenen Täterwelt? Ob man die Vernichtungsvorgänge als erlogen, belustigend oder bedrückend empfindet, ist ein großer Unterschied. Er ist aber nicht größer als derjenige, der zwischen der wie auch immer empfundenen Faszination der Hinrichtung und der beharrlichen Ignorierung der Scharfrichter besteht. Diese sind aber das ungewöhnlich Interessante an dem Fall.

Die überwältigende Mehrheit der Volksgenossen wollte für den in Blut und Feuer geendeten Nationalsozialismus nicht noch eine Haftung übernehmen. Durch ihn waren vier Millionen junge Männer im Felde gefallen, 600.000 Zivilisten zerbombt, das schöne Deutschland zerteilt und entzweigeschlagen. War das nicht Bitternis genug? Wer unter den so Gestraften nach zusätzlichen Strafen rief, wirkte schlimmer als die Nazis.

Die NSDAP war zu riesig, um kriminalisiert zu werden. Untergegangen, wollte sie niemals politischer Korpus gewesen sein, sondern ein Strand für Millionen hochkomplizierter Einzelschicksale. Getäuschte Idealisten, tragisch Verstrickte, unschuldig Verblendete, heimliche Obstrukteure, Verhinderer des Schlimmsten, furchtsam um Leib und Leben Bangende, dumme Tröpfe, die der Propaganda aufsaßen. Alle diese hörten nach der Kapitulation von den Alliierten zu ihrer Entrüstung, daß anstelle des nach Kriegsausbruch fälligen Schlußstrichs unter die Feindseligkeiten ihr Betragen im Dritten Reich straf- und völkerrechtlich überprüft werde.

Juden, Kriegsgefangene, Irre, Asoziale, Fremdarbeiter, Zigeuner waren keine gefährlichen Gewohnheitsverbrecher, Parasiten, Agenten, Kriegstreiber und Verräter gewesen, vielmehr wehrlose Opfer heimtückischen, grausamen Mords, Völkermords, von Kriegs- und Unmenschlichkeitsverbrechen. Aus tückischen Volksschädlingen waren kraft neuer Kompetenzordnung arme Opfer geworden. Weil die Deutschen deren Vernichtung weder abstreiten noch rechtfertigen konnten, stritten sie ab, davon gewußt zu haben. Angesichts der nachträglichen Strafdrohung eine nachträgliche Ausflucht. Von Strafrichtern möchte man nicht verstanden, sondern in Frieden gelassen werden. Man hat immer Tarnsprache gesprochen. Zunächst bei der Tat, später auf der Flucht. Der Flucht vor der Haftung und insbesondere der Flucht vor sich selbst. Beides ist spurlos gelungen.

Das ist die wahre Auschwitz- Lüge. Perfekt wie das Verbrechen war das Untertauchen. Untergetaucht waren zunächst die Täter, allmählich die Tat selbst. Am Tatort zurückgeblieben ist ein Gruselfilm aus Giftgas, Blut und Feuer, eine Horde keuchender Berserker, außerdem der breite Rücken Hunderttausender Pflichtmenschen, hinter dem sich das, was sie doch reibungslos vorbereiteten, unsichtbar, wie von Geisterhand vollzogen hat. Jörg Friedrich

Historiker; Ausschnitt aus dem im Dezember bei Piper erscheinenden Buch „Die kalte Amnestie – NS-Täter in der BRD“