: Eine Frage der Gesinnung
■ Urteilsbegründung im Fall Deckert - Gericht blind auf dem rechten Auge
Berlin (taz) – Das ist das Beruhigende an Urteilen: Sie werden nicht im Namen der Gesinnung, sondern „Im Namen des Volkes“ gesprochen – in unser aller Namen. Und so müssen sie gelesen werden, als Argumentationen, mit denen wir uns in der Welt bewegen dürfen, als Äußerungen, die opportun sind, als Meinungen, die dem Zeitgeist – und, vor allem, dem geltenden Recht entsprechen. Die 6. Große Strafkammer des Mannheimer Landgerichts unter dem Vorsitz des Richters Wolfgang Müller hat in ihrer Urteilsbegründung gegen den Chef der NPD, Günter Anton Deckert, indes keine Mühe gescheut, dieses Prinzip zu verkehren und uns vorzuführen, daß menschenverachtende Äußerungen, sofern sie der Gesinnung entspringen, dem Angeklagten zugute gehalten werden können, dürfen und sollen. Zwar ist Deckert wegen seiner Leugnung, daß die Nationalsozialisten Juden in Gaskammern vernichteten, zu einer einjährigen Strafe auf Bewährung wegen Volksverhetzung, Anstachelung zum Rassenhaß und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener verurteilt worden. Die Urteilsbegründung jedoch spricht diesem Spruch Hohn. „Positiv“ wird Deckert angerechnet, daß es ihm darauf ankam, „die Widerstandskräfte im deutschen Volk gegen die aus dem Holocaust abgeleiteten jüdischen Ansprüche zu stärken“. Er habe sich eben nur in der Wahl seiner Mittel vergriffen. Dann folgt die Gebrauchsanweisung, mit der Deckert das gleiche hätte verbreiten können, ohne strafrechtlich in Erscheinung zu treten. Deckert hätte sich in seinen Reden „auf die lange, seit der nationalsozialistischen Judenvernichtung verstrichenen Zeit“, beziehen können, „den Umfang der bereits erbrachten deutschen Sühneleistungen sowie die ungesühnten Massenverbrechen anderer Völker“ beziehen sollen. Das Gericht wertet die revisionistische Gesinnung zu seinen Gunsten. Deckert, mit seiner „betont nationalen Einstellung“, sei eine „verantwortungsvolle Persönlichkeit“, dem seine politische Überzeugung „Herzenssache“ sei. Und wenn das Herz einen leitet, so darf man eben eigentlich auch die Massenmorde leugnen, nur die richtige Sprache muß man finden. Hier wird nicht verurteilt, hier wird anerkennend gewürdigt. Hier sitzt der Richter mit dem Angeklagten, wie es der Publizist Henryk Broder formuliert, „schon längst am selben Stammtisch“. Und einen Freibrief stellt sich das Gericht dann auch noch selbst aus: Die „übergroße Mehrheit“ der Bevölkerung werde das Verständnis für die Milde des Urteils aufbringen – ja, das steht zu befürchten.
Die bundesdeutsche Justiz rühmt sich gerne, die Zeiten der Gesinnungsjustiz und der Blindheit auf dem rechten Auge hinter sich gelassen zu haben. Das mag zutreffen auf einige wenige engagierte Richter, die sich der Verurteilung von Rechtsextremisten widmen. Auf den Vorsitzenden Richter Müller in Mannheim trifft es nicht zu. Gerade die Gesinnung ist es, die dem Rechtsradikalen Deckert in der Urteilsbegründung zugute gehalten wird. „Im Namen des Volkes“ wird ein solches Urteil zur „Gebrauchsanweisung für Neonazis“, wie es das Präsidiumsmitglied im Zentralrat der Juden, Michel Friedman, formuliert.
Ein juristisches Vorgehen gegen Richter ist äußerst schwierig. Von den NS-Richtern wurde kein einziger wegen Rechtsbeugung verurteilt. Immer hielten die bundesdeutschen Richter ihnen zugute, daß sie nicht das Recht gebeugt, sondern davon selbst zutiefst überzeugt waren. Außerdem: Wann hackt schon einmal eine Krähe der anderen ein Auge aus?
Es bleibt abzuwarten, ob die Staatsanwaltschaft sich im Fall Müller einschalten und eine Anklage wegen Rechtsbeugung versuchen wird. Disziplinarisch nämlich, ist gegen Richter nichts zu machen. Sie stehen unter dem heren Schutz des Grundgesetzes: der Unabhängigkeit der Richter. Julia Albrecht
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