Diskus statt Schwebebalken

■ Bei der Leichtathletik-Europameisterschaft in Helsinki gelang Diskuswerferin Ilke Wyludda ihr erster großer Sieg seit 35 Monaten / DLV wird langsam quengelig

Berlin (taz/dpa) – Als Ilke Wyludda 1988 den Diskus mehr als 75 Meter weit schleuderte, reichte das nicht einmal zu einem der drei Plätze im DDR-Team für die Olympischen Spiele in Seoul. Jetzt genügten der Hallenserin bei den Europameisterschaften in Helsinki 68,72 Meter zum überlegenen Gewinn der Goldmedaille. Immerhin 26 Zentimeter mehr als 1990 in Split, wo Ilke Wyludda ihren letzten großen internationalen Erfolg feierte und eine der letzten Goldmedaillen für die DDR holte. Die Zeit der 70-Meter-Würfe ist im spätanabolen Zeitalter ebenso vorbei wie die Sportherrlichkeit des realen Sozialismus, um so glücklicher war die 25jährige Diskuswerferin, daß sie jetzt auch unter den neuen Verhältnissen an alte Triumphe anknüpfen konnte.

Nach Split war es in der bis dahin fast makellosen Karriere der kräftigen Sportlerin, die 41 Wettkämpfe hintereinander gewonnen hatte, rapide bergab gegangen. Bei den Weltmeisterschaften in Tokio 1991 schnappte ihr die inzwischen wegen Doping gesperrte Bulgarin Christowa den Titel mit dem letzten Wurf noch weg, bei den Olympischen Spielen in Barcelona kam sie mit 62,16 m nur auf den neunten Rang. Zudem häuften sich die Verletzungen. Von einem Patellasehnenabriß genesen, konnte sich Wyludda zwar für die WM in Stuttgart qualifizieren, doch dort flog der Diskus nur auf 60,42 m, wo doch schon 67,40 m zum Gold gereicht hätten – eine nachgerade peinliche Entlarvung der Mechanismen und Ingredienzien früherer Wurfgewalt im Diskuswesen.

Gelegentlich dürfte Ilke Wyludda jene Leipziger Sportlehrer verflucht haben, die das schon in zartem Alter ziemlich mächtige Kind einst zum Werfen delegierten: „Auf meinem Einschulungsfoto überrage ich die anderen um Kopfesgröße. Da kommt natürlich kein Übungsleiter auf die Idee, einen auf den Schwebebalken zu stellen.“ Vom Schwebebalken war auch nach Stuttgart keine Rede, obwohl eine Kreuzbandoperation Wyludda erst im Januar wieder mit dem Training beginnen ließ. Mit dem Sieg beim Europacup in Birmingham im Juni und einer leibhaftigen Psychologin im Reisegepäck kam die Diskuswerferin nach Helsinki und konnte erstmals wieder an ihre alte Erfolgsstrategie anknüpfen: „Ich möchte im ersten Wurf eine gute Weite vorlegen, um gewisse Sicherheit zu haben. Die nächsten Würfe sind Versuche, diese Weite zu überbieten, und im letzten sage ich: Hopp oder top.“ 65,40 m im ersten Versuch waren „der Meilenstein“, es folgten zwei weitere Würfe, die zum Sieg gereicht hätten und „top“ hieß es diesmal schon im fünften Durchgang, als sie mit 68,72 m die Jahresweltbestleistung einstellte. „Ich bin sprachlos“, sprach die glückliche Siegerin anschließend.

Weniger Glück hatte Edgar Itt, der über 400 m Hürden zwar einen guten 5. Platz erreichte, die angestrebte Medaille aber verpaßte. „Ich bin zu langsam angegangen“, ärgerte sich der Gelnhausener, „und was man vorne nicht gewinnt, kann man hinten nicht mehr rausholen.“ So einfach kann Laufen sein. Es siegte der Ukrainer Oleg Twerdochleb in 48,06 Sekunden.

Edgar Itt fand seinen fünften Platz trotz aller Selbstkritik „ganz toll“, weniger zufrieden zeigte sich DLV-Leistungssportchef Frank Hensel mit dem bisherigen EM- Verlauf. Eifriges Medaillenzählen gilt zwar auch im DLV nicht mehr als die feine Art, aber ein bißchen Nörgelei kann man sich nicht verkneifen. „Eine ganze Reihe von Leistungen war nicht in Ordnung“, meinte Hensel. „Die Zahl der Ausgeschiedenen ist zu hoch.“ Zu denen zählte auch Titelverteidiger Dietmar Haaf, der in der Qualifikation gescheitert war und tatenlos mit ansehen mußte, wie sich Ivailo Mladenow (Bulgarien) mit 8,09 m zum Champion krönte.

Über 3.000 m der Frauen – eine Strecke, die bei künftigen Meisterschaften durch die 5.000 m ersetzt wird – holte sich die Irin Sonia O'Sullivan ihren allseits erwarteten überlegenen Sieg, erheblich spannender verlief das 800-m-Finale der Frauen. Vier Tage nach ihrem 37. Geburtstag und 18 Jahre nach ihrem ersten internationalen Start besiegte die Russin Ljubow Gurina in einem Millimeter-Finale die zeitgleiche Natalja Duchnowa (Ukraine).

Weiter ging es auch im Dopingroulette. Nachdem schon vor Beginn der EM ein gutes Dutzend erwischt worden war, darunter große Namen wie die Staffel-Weltmeisterin Natalja Woronowa oder die WM-Dritte über 800 m, Ella Kovacs, gab es nun den ersten Fall der Europameisterschaft. Bei der Bulgarin Sofia Boschanowa, der Vierten im Dreisprung, wurde das Amphetamin Mesocarb festgestellt, ein Mittel, auf dessen Einnahme vier Jahre Sperre stehen. „Wir freuen uns über jeden Fall, der aufgedeckt wird“, kommentierte DLV-Präsident Helmut Digel begeistert die prompte Entlarvung der Springerin. Für die gute Laune des Verbandschefs ist also gesorgt, auch wenn es mit der angestrebten Medaillenflut nicht klappen sollte. Matti

Frauen, Diskus: 1. Ilke Wyludda (Halle) 68,72 m; 2. Ellina Zwerewa (Weißrußland) 64,46; 3. Mette Bergmann (Norwegen) 64,34; 800 m: 1. Ljubow Gurina (Rußland) 1:58,55 Minuten; 2. Natalija Duchnowa (Weißrußland) 1:58,55; 3. Ljudmilla Rogachowa (Rußland) 1:58,69; 3.000 m: 1. Sonia O‘Sullivan (Irland) 8:31,84 Minuten; 2. Yvonne Murray (Großbritannien) 8:36,48; 3. Gabriela Szabo (Rumänien) 8:40,08

Männer, 400 m Hürden: 1. Oleg Twerdochleb (Ukraine) 48,06 Sekunden; 2. Sven Nylander (Schweden) 48,22; 3. Stephane Diagana (Frankreich) 48,23; Weitsprung: 1. Ivailo Mladenow (Bulgarien) 8,09 m; 2. Milan Gombala (Tschechische Republik) 8,04; 3. Konstandinos Koukodimos (Griechenland) 8,01

Leichtathletik EM in Helsinki: