In der sozialen Welt läuft es anders

■ betr.: „Szenen einer Begriffsehe“, taz vom 5. 8. 94

[...] Ich glaube nicht, daß man konstruktivistische Ansätze so in einen Topf werfen sollte, wie Lindemann es tut. Zwischen der Sicht der Dekonstruktivistinnen auf Geschlechterverhältnisse und verschiedenen sozialkonstruktivistischen Sichtweisen liegen Welten. So wurde der Körper als materielle Entität bei den Wissenssoziologen und -soziologinnen nie zur rein diskursiven Konstruktion erklärt. In den Sozialwissenschaften, zum Beispiel bei Erving Goffman, wurde zwischen sex und gender immer noch ein Zwischenschritt mitgedacht, der ganz zentral ist, und zwar der Schritt der Relevanzsetzung. Soziale Prozesse der Relevanzsetzung von Körperlichem für Machtunterschiede fehlen ja bei Judith Butler gänzlich. Machtunterschiede liegen bei ihr und anderen Differenztheoretikerinnen schlicht in der Differenz selbst, welche außerdem immer um Sexualität kreist und insofern sowieso schon hochst reduziert konzeptualisiert ist.

Körperliche Differenzen gibt es ja zuhauf. Nicht in jede Differenz wird ein Machtunterschied eingeschrieben. Säuglinge sind beispielsweise schwer, leicht, groß, klein, blond, braun ... Aber nicht an alle Unterschiede werden Verhaltenssysteme, wie gender eines darstellt, angebunden. In vielen Gesellschaften wird ja auch die Hautfarbe relevant gesetzt. Goffman (siehe „das Arrangement der Geschlechter“, welches in Bälde bei Campus erscheint; Buchtitel: Interaktion und Geschlecht) unterscheidet zwischen sex und sex class. Die Geschlechtsteile von Kindern lösen bei Erwachsenen Gruppierungseffekte aus. Zunächst mal sind sie einfach da wie blaue und braune Augen. Letztere werden aber selten sozial so hochgradig bedeutsam gemacht. Der Körper wird dann geprägt durch den Erwartungsrahmen, der auf ihn projiziert wird. Jedenfalls bleibt er aber als solcher erhalten, und zwar nicht als Zugeständnis, sondern als eine Entität, welche in die Konstruktion mit eingeht. Gender ist institutionalisiert und wird an den Körper zurückgebunden.

Bei den Dekonstruktivistinnen fehlt auch die Idee der Institutionalisierung. Bei ihnen gibt es ein freies floating irgendwelcher Performanzen. So geht es vermutlich zu in der schönen Literatur, die ja ihr eigentliches Betätigungsfeld ist. In der sozialen Welt läuft es nun mal anders. Ich gebe G. Lindemann unbedingt recht bezüglich des nötigen Einbezugs von Raum und Zeit. Helga Kotthoff, Konstanz