Kulturpessimismus

■ betr.: „Du sollst nicht hören“, taz vom 2. 8. 94

Kulturpessimismus hat eine lange Tradition, und immer ist es das jeweils neuere Verfahren, das die ästhetische Wirkung der jeweils vorherigen, aber akzeptierten Technologie in Frage stellen soll. Gegen das Einfangen von Tönen mit dem Phonographen, das die Vorführung mit echten Instrumenten ersetzte, wurde seinerzeit mit genau demselben Argumentationsmuster gewettert.

Als ob die jetzt übliche analoge Aufzeichnung und Übertragung nichts vom Original unterschlagen würde. Die Bandbreite ist aus überwiegend pragmatischen Gründen auf zirka 14–15 kHz begrenzt. Wer etwas von Physik versteht, weiß, daß das zu Verzerrungen führt. Dazu kommen die Verzerrungen im Lautsprecher, die immer noch die größte Fehlerquelle bei der Tonübertragung sind. Aber man hat sich daran gewöhnt, „falschen“ Klang als angenehmer zu empfinden.

Frank Wörler wettert gegen die Datenreduktion, in der er eine Reduktion der Wahrnehmung sieht. Warum soll man Daten übertragen, die nicht benötigt werden, die für den Eindruck des Originals nicht relevant sind, die, wie er selbst sagt, das menschliche Ohr auch ausfiltert. Es ist Polemik, hier von akustischem Müll zu sprechen. Der Maßstab ist immer noch das Original. [...] Die digitale Übertragung und die CD sind präzise im Sinne einer originalgetreuen Reproduktion des Eindrucks der Originale. Die Schallplatte ist nicht präziser, aber manche Leute geben sich der Illusion hin, daß ihre Verfälschungen angenehmer klingen würden. Was aus dem Lautsprecher kommt, ist immer „harmonisch“, die Dauerberieselung mit digitaler Musik ist keine zusätzliche Gefahr. Schließlich benutzen die Rundfunkanstalten für die Übertragung der Programme schon seit langem digitale Übertragungsstrecken der Post.

Nicht das technische System ist die Gefahr, sondern welche Inhalte, welcher Art von Programmen gesendet werden. [...] Man muß die Sumpfsender bekämpfen, die mit ihren Dudelprogrammen den Äther verstopfen, und man muß die Politiker bekämpfen, die uns das als „Informationsfreiheit“ verkaufen wollen.

Was spricht denn dagegen, daß man es mit dem digitalen Rundfunk realisieren kann, daß sich das Radio auf einen bestimmten Sender einschaltet, wenn das kommt, was man hören will, und man nicht alles, vor allem die Werbung, hören muß? Was ist denn so schlimm daran, wenn parallel zur Sendung der gesprochene Text übertragen wird und zum Nachlesen ausgedruckt werden kann?

[...] Frank Wörler hätte vermutlich auch das Schreiben auf Papyrus gegen das Schreiben auf Papier verteidigt, bei dem soviel Subtilität verlorengeht, den Federkiel von der Gans gegen die Feder aus Stahl, den Kolbenfüller gegen den Kugelschreiber, Word 5.0 gegen WinWord. Immer ist gerade die vorherige Stufe die bessere, egal wie schlecht sie ist. Das ist keine Nostalgie, das ist Gedankenlosigkeit, Mangel an analytischem Denken. Roland Schnell, Bad Zwesten