■ Nach der Lektüre der 67 Seiten des Mannheimer Urteils
: Einer von den guten Deutschen

„Der Ehe, die noch heute besteht, entstammt eine im Jahre 1969 geborene, ihrerseits verheiratete Tochter, die dem Angeklagten bereits einen Enkel geschenkt hat.“ Rührende Poesie der Wohlanständigkeit, vorgetragen als Persönlichkeitsbild des NPD- Chefs Deckert im Urteil des Landgerichts Mannheim. Der so reich Beschenkte war nach den Tatsachenfeststellungen des Gerichts „ein allseits beliebter und erfolgreicher Lehrer, der sich im Dienst nie einer Verfehlung schuldig gemacht hat“, bis er „diesen seinen geliebten Beruf aufgeben mußte“. Selbst wenn er politisch in Aktion tritt, ist er „in Mimik und Gestik beherrscht und unauffällig“. „Uneigennützig“ hat er gehandelt, „von der sachlichen Richtigkeit dessen, was er sagte und tat, überzeugt“. Daß er es „nicht über sich brachte, seine Bindungen an die NPD mit der nötigen Konsequenz zu lösen“, wertet die Kammer als „zu respektierende Gewissensentscheidung“. Vor allem ist Deckert „kein Antisemit im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie“. Vielmehr wertet das Gericht seine Tat „als von dem Bestreben motiviert, die Widerstandskräfte im deutschen Volk gegen die aus dem Holocaust abgeleisteten („abgeleiteten“?) jüdischen Ansprüche zu stärken“. Das ist aber auch nötig, denn: „Deutschland ist auch heute noch, rund fünfzig Jahre nach Kriegsende, weitreichenden Ansprüchen politischer, moralischer und finanzieller Art aus der Judenverfolgung ausgesetzt, während die Massenverbrechen anderer Völker ungesühnt blieben.“

Mit nur wenigen, meisterhaften Strichen ist es dem Gericht gelungen, das Bild des anständigen Deutschen zu zeichnen, der sich bedauerlicherweise in der Wahl seiner politischen Mittel vergriffen hat. Es ist diese untadelige Täterpersönlichkeit, die uns in den gewöhnlich mit Freisprüchen endenden Urteilen gegen rechte Fememörder in der Weimarer Zeit immer wieder begegnet. Wieviele vorbildliche Ehemänner und zweifach geprüfte Juristen taten später in den Büros des Reichssicherheitshauptamts Dienst! Und wieviel Idealismus und Charakterstärke zeigten die mordenden SS-Schergen, die ihre anfänglichen Skrupel im höheren, nationalen Interesse überwanden! Das Bild des Deutschen Deckert im Urteil des Mannheimer Landgerichts enthält eine Botschaft: Der ist einer von uns, einer von den Wohlanständigen. Der gehört nicht in den Knast. Mögen die Linksintellektuellen noch so sehr über die deutschen „Sekundärtugenden“ spotten – wir, die wir sie verkörpern, bilden nach wie vor das Rückgrat der Nation. Man muß nur einen Augenblick überlegen, wie die Gerichte in den RAF-Prozessen die Persönlichkeit der Täter charakterisierten, um die monströse Einseitigkeit des Mannheimer Urteils, seine Befangenheit in einem vordemokratischen, reaktionären Weltbild zu erkennen.

Ein einmaliger Ausrutscher, dieses Urteil, wie der Protest allerorten (einschließlich der Standesorganisation der Richter) nahelegen könnte? Oder nicht doch der verschwiegene Maßstab, den viele Richter anlegen? Die Bundesrepublik verlangt von ihren Beamten ein nachdrückliches Bekenntnis zu den demokratischen Grundwerten. Damit ist das Menschenbild eines Gerichts unvereinbar, nach dem die Charakterstärke eines Angeklagten unabhängig von den verbrecherischen Motiven und Zielen seiner Tat als strafmildernd honoriert wird. Es geht nicht nur darum, daß der Bundesgerichtshof die Gründe der Strafzumessung aufheben muß. Die „Tatsachenfeststellung“ des Gerichts, wonach Deutschland auch noch nach fünfzig Jahren „weitreichenden Forderungen aus der Judenverfolgung ausgesetzt“ sei, ist selbst nicht nur falsch, sie ist auch antisemitisch und volksverhetzend. Staatsanwälte Badens, besinnt Euch der demokratischen Traditionen Eures Landes! Christian Semler