Wand und Boden
: Truffautsche Obsessionen

■ Kunst in Berlin jetzt: Sharon Lockhart, Das Genre Tier und Gregor Torsten Kozik

Kinder und Tiere sind dem Künstler bekanntermaßen gefährlich, denn sie stehlen jedem und allem die Schau. Was aber, wenn Künstler sich dem Thema Kind und Tier annehmen?

Dann kann es zum Beispiel passieren, daß der adäquate Text zu Sharon Lockharts Fotoserie „Auditions“ bei neugerriemschneider sowie zu ihrem dreiteiligen Kurzfilm „Khalil, Shaun, A woman under the influence“, der zur Ausstellungseröffnung gezeigt wurde, sich interessanterweise im Katalog zur Ausstellung „Das Genre Tier. Zoologie oder Mein kleiner Tierfreund“ in den Kunst-Werken Berlin, findet. An sich ist zunächst nichts besonders Bemerkenswertes zu erkennen auf den großen, perfekten Farbabzügen, auf denen sich bunt gekleidete Jungen und Mädchen umarmen, offensichtlich in einem großzügigen Treppenhaus, etwa dem einer Schule. Doch dann fällt auf, daß die Paare sich trotz einer gewissen Ungelenkheit ganz gut im Griff haben. Es ist keine verstohlene Anglegenheit, diese Umarmung zum Kuß: Denn dieser ist ein veritabler Filmkuß. Sharon Lockhart hat ihn, der in seiner originalen Fassung eine kindliche Mutprobe war, mit den Kindern geprobt und nachgestellt: das „Genre als MacGuffin“, wie Holger Weh im erwähnten Katalog schreibt, als Vorwand also, ganz andere Absichten, Handlungen und Erwartungen zu thematisieren und zu erproben.

Nicht die Künstlerin Lockhart, die Frau, interessiert sich für das Thema Kind und Kindheit, sondern François Truffaut, dem Filmemacher, dem Mann, war es eine Obsession, der er einige seiner besten Filme verdankte. Und Sharon Lockhart, die am Pasadena Art Center College of Design Filmtheorie und Bildende Kunst studierte, interessiert sich für Truffaut und seine Vorliebe für das Filmstill. Sein Semidokumentarfilm „Taschengeld“ gab die Vorlage ab. In Lockharts Aneignung zeigt sich die Szene glatt, artifiziell, kontextarm. Und so wird die Truffautsche Nostalgie für den Filmkuß in diesem Kinderkuß, der mit dem ganzen Körper betrieben wird und mit geröteten Mädchenwangen und kräftigem Zugriff von Jungenarmen einhergeht, aufgehoben; negiert und doch bewahrt.

Bis 10.9., Di-Sa 11-18 Uhr, Goethestraße 73, Charlottenburg.

Man könnte auch Tiere vermuten in den kohleschwarzen Schraffuren und Linien, die Gregor Torsten Koziks Papierhäute in der Galerie Gunar Barthel strukturieren. Zumindest Tierknochenfragmente, denn obgleich von Figuration in seinen Papierarbeiten, Zeichnungen und Drucken nicht die Rede sein kann, vermittelt die Linienführung doch den Eindruck von death and destruction, von latenten Skeletten. Kozik zeichnet auf ausgewaschenen Resten, auf Papierabfällen, die als grober, unebener Bildträger interessieren, in den Farben der alchimistischen Wandlungsmystik: Nigredo – die Schwärzung, albedo – die Weißung und rubedo – die Rötung sind die Stufen zur Läuterung der Seele. Ein gutes Quantum Zen ergänzt die kosmologische Kunst- Welt, die auf großen Fahnen durchscheinenden Japan-Vlieses in expressiver Holzschnittmanier zu Tage tritt. Die dazugehörigen Holzstöcke ergänzen die Flächenkunst skulptural. Sie vor allem zeigen ein „Schwarz, wie die Erinnerungswunde“, wie der Katalog Paul Celan zitiert.

„Das narkotische Getriebe der Verjüngungsmaschine“, bis 24.9., Mo 14-18, Di-Fr 11-19, Sa 11-14 Uhr, Fasanenstraße 12, Charlottenburg.

Nicht das namengebende Sujet, „Das Genre Tier“, interessiert, sondern das etablierte Spielfeld, das damit verbunden ist: Dies ist das Thema der charmanten, sehenswerten Verzierung der Sommerpause in den Kunst-Werken Berlin. Wolfgang Müller, den taz-Lesern als Vogelfreund hinlänglich bekannt, geht mit seinem „Riesenbrillenalk“ gleich aufs Ganze. Das Tier als ausgerottete Gattung, als melancholisch stimmender Staubfänger zwischen Naturwissenschaft und Spielzeug. So zeigt sich seine Rekonstruktion dieses sympathisch anmutenden, arglosen Vogels, der – groß, plump und flugunfähig – leider sehr wohlschmeckend und damit dem Untergang geweiht war. Er befindet sich nicht in der Sicherheit des Glassturzes, wie man es aus dem Naturkundemuseum kennt. Anrührend und erwartungsvoll steht er auf einem Eisentischchen; glaubhafter als Ausgeburt künstlerischer Phantasie denn als verspeistes Tier.

Wolpertinger dagegen existierten nie, auch wenn die Bayern dies behaupten. Thomas Grünfelds Nagetierhybriden mit Hasenkopf und Rattenschwanz scheinen dieser Folklore verbunden, wollen aber als Kleinplastiken auf Sockel und unter Glas gewürdigt werden. Bemerkenswert an der Tierschau der Kunst- Werke ist das Spektrum der beteiligten Künstler. Candida Höfers Serie aus Zoologischen Gärten ist durch zwei Fotografien aus Hamburg und Köln repräsentiert. Bevor die Pinguine ausgestopft unter Glas landen, werden sie in Kojen aus Beton ausgestellt. Im Linienraster gekachelter Wände verenden die Tiere, wie Peter Greenaways „Verwesendes Zebra“ aus dem Kurzfilm „A Zed & Two Naughts/Z.O.O.“ 1985. Das Linienraster verweist dabei auf Eadweard Muybridge, der es als Hintergrund benutzte, die Bewegungen des „Cackatoo flying“ (Plate 762) und des Pferdes „Eagle walking free“ (Plate 576) zu verdeutlichen. Wilmar Koenig plazierte winzige Fotoabzüge in große farbige Passepartouts, die eine monochrome Farbassemblage bilden. In der Nahsicht erkennt man seltsame Tiere, die in einer merkwürdig unwirklichen Umgebung fotografiert wurden. Sie sind präpariert und dienen als Staffage in Dioramen, als Mittel der Realitätssteigerung. Das führt in die vielfältigen ,Verwertungszusammenhänge‘ über, in denen das Sujet „Tier“ erscheint. Georg Ettl sieht und sucht den Bezug zur Heraldik; Ralf Peters stellt Stofftiere her, Krokodile mit schwarzweißgescheckter Kuhhaut; empfangen oder entlassen wird man mit Edith Klingers ORF-Fernsehserie „Wer will mich?“

Bis 11.9., Di-So 14-18 Uhr, Auguststraße 69, Mitte. Brigitte Werneburg.