Die Toskana-Fraktion bricht ihre Zelte ab

Für viele ist das Leben in der Toskana der Traum schlechthin. Doch nach Jahren Sonne und Chianti kapitulieren die ersten Toskana-Deutschen vor der Idylle  ■ Von Michael Saur

Du hast's gut. Du lebst in der Toskana.“ Zu oft schon hatte Evelyn diesen Satz gehört. So oft, daß sie den vielen Neidern endlich mal zeigen wollte, wie es wirklich ist. Daß es im Januar morgens im Badezimmer 3 Grad hat und einem die nackten Füße an den eiskalten Kacheln festkleben. Daß, wenn keine Milch im Haus ist, der Krämer nicht um die Ecke wohnt, sondern im 10 Kilometer entfernten Dorf; nur über eine stoßdämpferverachtende Schotterstraße zu erreichen, die sich im Frühling in einen schmutzigen Matschbach verwandelt. Sie wollte ihren Freunden in München, Hamburg oder Frankfurt zeigen, daß die Abende im selbstgewählten Paradies sehr lang sein können und irgendwann der Hund und die Katze nicht mehr den Bedarf an Unterhaltung decken.

Zwei-, dreimal war sie auf Urlaub in Italien gewesen. Sie hatte die Deutschen, die dort leben, immer beneidet. Dann packte sie selbst ihre Sachen. Nach einer gescheiterten Ehe und dreißig Jahren aufopfernder Arbeit als Krankenschwester in einer norddeutschen Kleinstadt hat sie sich gesagt, daß es genug ist. Sie ging nach Afrika, nach Sierra Leone, mit dem Ziel, „endlich etwas Vernünftiges zu machen“. Es kam alles ganz anders. Das Flugzeug von Air Afrique, das sie in Frankfurt bestieg, flog zwar planmäßig nach Sierra Leone; doch der Flug endete für Evelyn in der Südtoskana. In Sierra Leone hatte sie einen Mann kennengelernt, der ein Haus in der Toskana hatte. Sie kam mit ihm. Da war sie nun: inmitten der erträumten Idylle, eine Welt, gemacht aus sanften Hügeln, umrahmt von Weinreben und Olivenhainen. Ein Himmel, so klar, wie Evelyn ihn in Deutschland nie gesehen hatte. Die Luft roch nach Flieder. Dieses Fleckchen Land mußte dem Paradies ähnlich sein.

Italien zwischen Bologna und Rom hat die Deutschen von jeher fasziniert. Hier schlagen übersättigte Bildungsbürger seit Jahrhunderten ihre Zelte auf, entsagen der Zivilisation und haben trotzdem an einer großen Kultur teil. Die Toskana hat kein Schmuddelwetter, keine tiefverhangenen, grauen Novembertage. Jeden März bricht der Frühling mit ungeheurer Macht ein. Hier war das Pflanzen und Wässern der eigenen Oliven, als ob man an einer lyrischen Komposition arbeitete, und der Schafhirte züchtete seine Lämmer mit künstlerischem Anspruch. Und doch: Die Vorhut eines Trecks in Richtung Heimat hat sich auf den Weg gemacht.

Der große Run der Deutschen nach Italien begann in den siebziger Jahren. Die Utopien der Revolution von 1968 waren nicht wahr geworden, und ein Teil der Revolutionäre kehrte zum Mief der Gewohnheit zurück. Was waren die Alternativen, die diesen ungeheuren Drang nach Veränderung befriedigen konnten? Die, die ihre Ideale nicht verraten wollten, mußten weg. Sie wanderten aus. Die Toskana bot alles: Exotik, Kultur und einfaches Landleben ebenso wie einen günstigen Wechselkurs. Für ausreichend freie Hütten und Paläste sorgte die Landflucht der toskanischen und umbrischen Bauern.

Der enge und staubige Feldweg zu Evelyns italienischem Heim führt an einem liebevoll und originalgetreu restaurierten Weingut vorbei. Vor der großen Holztüre steht ein Auto deutschen Fabrikats mit Hamburger Nummernschild. Hier wohnen Ute und Ute, ein lesbisches Paar, das sich vor einem Jahr auf Dauer in der Toskana niedergelassen hat. Ihr Gut trägt den Namen „Casa Ventosa“, das windige Haus. Eine leichte Brise bläst dauernd vom Tal hinauf. Der Hügel, auf dem das Gemäuer steht, wirkt ungewöhnlich kahl. Die alten Zypressen, die so hervorragend gegen den Wind schützten, fielen einer Ideologie zum Opfer: „Zu viel Phallus“, sagten sich die vom Hamburger Seewind geprüften Utes.

Evelyns Haus ist das letzte an dem kurvigen Feldweg, bevor dieser in einen verwachsenen Trampelpfad übergeht. Seit zwei Jahren lebt Evelyn nun im Paradies.Sie ist viel allein. Das nötige Geld verdient ihr Lebensgefährte, indem er das halbe Jahr als Entwicklungshelfer durch die Welt reist. Evelyn hat angefangen zu schreiben, zwei Bücher habe sie im Kopf, keine Romane, sondern ihre eigene Geschichte. Wenn man so viel alleine ist, „wird man gewissermaßen zum Zentrum des Universums“, philosophiert sie. Für eine große deutsche Wochenzeitung wollte Evelyn eine eigene Kolumne. Damit wollte sie es dann all denen zeigen, die sie dauernd „um ihren Platz an der Sonne“ beneiden und deren erster Satz am Telefon auf merkwürdig regelmäßige Art und Weise immer damit beginnt, wie gut sie es denn hätte. „Der Redakteur, dem ich meine Idee mit der Kolumne vorschlug, war auch der Ansicht, daß sich, sobald die Sonne scheint, alle Probleme in der klaren Luft unter dem azurblauen Himmel in nichts auflösen, als hätte es sie nie gegeben“, erzählt sie. Jetzt will Evelyn zurück nach Deutschland. Sie will versuchen, wieder eine Stelle als Krankenschwester zu bekommen – in Hamburg.

Eberhard und Ingrid Kuhn haben den Schritt zurück bereits vollzogen. Zehn Jahre haben sie in Preggio in ihrem alten Naturstein- Bauernhof gelebt. Benny, das jüngste der drei Kinder, ist hier zur Welt gekommen. Die Kuhns waren junge Leute, als sie Deutschland hinter sich ließen. Heute leben sie in einer oberbayerischen Kleinstadt in der Nähe von München und sind gar nicht mehr so jung. Die Angst vor dem Alter wurde in Italien immer größer. Eberhard hatte sich für eine Volkshochschule bei München beworben. Er hat den Job bekommen. Voller Euphorie über einen Wechsel brach die Familie die toskanischen Zelte ab. Ingrid freute sich, ihre „politische Arbeit“ wieder aufzunehmen. Sie engagiert sich jetzt bei amnesty international und hat eine Elterninitiative gegründet. Doch „die eigentlichen Tragödien im Leben sind mehr die Träume, die wahr werden, als die, die nicht wahr werden“, sagt Ingrid. Nach eineinhalb Jahren wurde Eberhards Stelle eingespart. Ingrid verdient das Geld jetzt alleine. 2.500 Mark Miete kostet das Reihenhaus im Monat.

Am meisten leiden die Kinder unter der Umstellung: neue Schulen, zwangvolle Enge in einer oberbayerischen Kleinstadt und vor allem eine neue Sprache. In Italien haben Benny, Barbara und Bastian mit den Eltern deutsch gesprochen. Doch die Freunde in der Schule, die Nachbarn, das Fernsehen, das alles war auf italienisch. Barbara, mit 16 die Älteste, hat außerdem noch Giovanni in Preggio zurücklassen müssen. Auf ihre Art hatten sie sich ewige Liebe geschworen. Schon beim ersten Urlaub in Italien ein halbes Jahr später waren sie nicht mehr dieselben. Barbara besucht ein Gymnasium bei München. Ihre Eltern müssen den Latein-Nachhilfelehrer bezahlen. Eberhard ist jetzt Hausmann und kümmert sich um die drei Kinder. „Wer zehn Jahre nach der eigenen Uhr gelebt hat, kann nicht so ohne weiteres funktionieren im festen Ablauf einer öffentlichen Einrichtung“, erklärt er.

Ingrid Kuhn strotzt vor Energie. Obwohl sie sich von allen wieder am besten in Deutschland eingelebt hat, leuchten ihre Augen, wenn sie von Preggio spricht. „Endgültig“, sagt sie, „ist in unserem Leben gar nichts.“ Das haben die Kuhns zu ihrer Maxime gemacht. Vielleicht heißt ihre nächste Lebensstation ja auch Kanada oder Australien.

Als die Kuhns Italien verließen, löste das eine Art Schock unter ihren Freunden in der Toskana aus. Viele Bekannte der Kuhns tragen sich schon lange mit dem Gedanken, nach Deutschland zurückzukehren. Oft ist es einer der Partner, der die Isolation nicht mehr aushält und wieder in Deutschland leben möchte. Denn Angst vor der Zukunft kam nach der ersten Euphorie bei den allermeisten Exilanten sehr bald auf, entwickelte sich zum ständigen Begleiter: keine Krankenversicherungen, keine Altersvorsorge, das Gefühl, in Deutschland den Anschluß verloren zu haben, aber auch in Italien nicht so recht dazuzugehören, nagt an den Nerven vieler. Dazu kommt meist ein chronischer Geldmangel.

Die Einkünfte der Kuhns beschränkten sich in Italien ausschließlich auf die Mieteinnahmen für die drei Einliegerwohnungen, die sie während der Sommermonate an deutsche Urlauber vermieteten. Um einigermaßen über die Runden zu kommen, lebte die fünfköpfige Familie so beengt, daß sich die drei Kinder zuletzt ein Zimmer teilen mußten. „Unsere Ansprüche gehen im Alter zurück“, erzählen Ingrid und Eberhard, „aber es fiel uns zunehmend schwerer, den Kindern jeden Wunsch abschlagen zu müssen.“ Und doch: Bastian, der Zweitälteste, fragt auch heute noch jeden Tag, wann er mit seiner Familie nach Preggio zurückfahren kann. „Unser Herz“, da sind sich die Kuhns einig, „liegt in Preggio. Es war eine Vernunftentscheidung, einen erneuten Versuch in Deutschland zu starten.“ Ihr Haus in Italien haben die Kuhns behalten. Seit Eberhard arbeitslos ist, gibt es immer wieder Diskussionen, ob er allein in Italien leben soll. Doch gerade am Alleinsein scheitern die Auswanderer.

Michael B. war einer der ersten Deutschen, der sich eines der alten Bauernhäuser rund um den Trasimenischen See gekauft hatte. Das war 1970. Er war Maler, vielversprechend, und lobte vor allem das Licht dort. Mit viel Phantasie und Witz baute er sein Haus aus, malte Bilder, verkaufte sie auch und lebte gut davon. Immer wieder teilte er sein Haus mit Frauen aus Deutschland. Doch er wurde älter und einsamer. Die Frauen blieben aus. Auch taten es ihm immer mehr Deutsche gleich, stiegen aus und kauften ein altes Haus in Italien. Die zu Beginn so freundlichen Italiener verloren das Interesse, der Exot wurde gewöhnlich. Zum Schluß war Michael nur noch ein Schatten seiner selbst. Niemand kontrollierte ihn, und er begann zu trinken. Seine letzte Ausstellung in Arezzo, von Freunden organisiert, wurde zum Fiasko. Erst kam der Künstler stundenlang gar nicht, und dann war er so betrunken, daß die Veranstalter wünschten, er wäre tatsächlich zu Hause geblieben. Nicht sehr lange danach fanden ihn Freunde tot auf seinem Küchenboden.

Maria ist die Nachbarin Evelyns und ihre beste Freundin. Ihr Bauernhaus liegt auf der anderen Seite des Tals, 12 Kilometer Schotterweg trennen Maria und Evelyn. Seit Maria von ihrem Mann verlassen wurde, teilt sie ihr halbfertig restauriertes Fünfzimmerhaus nur noch mit ihren drei Kindern. Dann und wann beherbergen Maria und die Kinder eine Gästegruppe, für die Maria auch kocht. Vor zwei Jahren hat sie einen neuen Nachbarn bekommen. Maria nennt ihn „einen mit Geld“. Die Legende sagt, er sei der Rechtsanwalt von Steffi Graf, und er hat in sechs Monaten geschafft, wofür Eberhard und Ingrid oder Maria zehn Jahre gebraucht haben. Im Nu war sein Haus renoviert, selbst den Feldweg hinauf ließ er pflastern. Zu Gesicht bekommen hat ihn von den Deutschen noch niemand. Die Italiener in der Umgebung sprechen in den allerhöchsten Tönen von ihm. Sie waren auch die Arbeiter, die das dreigeschossige Haus ausbauten und renovierten. Selbst den Tennisplatz mit der Flutlichtanlage finden sie bene. Und sowieso, vom alternativen Landleben halten viele der Italiener ungefähr soviel wie manche der schafzüchtenden Toskana-Deutschen von dem Tennisplatz. Die Italiener schätzen und lieben ihre Heimat zwar, aber Deutschland ist für die toskanischen Bauern nach wie vor das Wohlstandsparadies, aus dem ihre Leute mit großen Autos und dicken Brieftaschen zurückkamen.

Über den Ex-Journalisten, der auf Elba Oliven anbaute und sich weigerte, Dünger zu verwenden, konnten die ortsansässigen Insel- Toskaner nicht mal mehr lachen. Dieser war zu guter Letzt so frustriert, daß er sein Haus auf der Insel wieder verkaufte, Sack und Pack nahm und das wahre und wirkliche alternative Leben suchte – in der Südsee.