Freischwebende Reste

■ Jean-Franois Lyotard, der Philosoph der Postmoderne, über das neue Deutschland, den ideologischen Atavismus der Rechtsextremen, Trash-art und das Erhabene als ein ästhetisches Gefühl

Jean-François Lyotard, Jahrgang 1924, ist als der Philosoph der Postmoderne bekannt geworden. In seinem Werk „Das postmoderne Wissen“ (deutsch 1986) hat er die Transformation des Wissens in Sprachspiele beschrieben, die durch keine „große Erzählung“ mehr miteinander verbunden werden können. Das war selbst eine große Erzählung, und zwar genau die, nach der sich die ironischen achtziger Jahre sehnten. Ende der Achtziger wurde sein Versuch, das Erhabene als ästhetische Kategorie zu rehabilitieren, heftig diskutiert. Mit dem wenig erhabenen Ende der Postmoderne ist es stiller um ihn geworden. Unser Gespräch fand im Juni in Hamburg statt.

taz: Wiedervereinigung, Rechtsextremismus, Gewalttaten gegen Ausländer, wiedererwachender Antisemitismus, das sind Stichworte zur gegenwärtigen Situation in Deutschland. Wie nehmen Sie diese Situation wahr? Mit welchen Gefühlen und Gedanken kommen Sie heute nach Deutschland?

Jean-François Lyotard: Zunächst denke ich, daß die Wiedervereinigung eine riesige Herausforderung ist, eine zugleich ökonomische, soziale und ideologische Herausforderung. Ich denke, daß Deutschland dieser Herausforderung vollkommen gewachsen ist. Ich mache mir da keine Sorgen, nicht im geringsten. Es wird Zeit brauchen, fünf oder zehn Jahre, bis es zu einer wirklichen Angleichung kommt. Es stimmt auch, daß die Reste Ostdeutschlands eine schwere Last bedeuten, aber ich glaube, daß das alte Deutschland sehr wohl in der Lage ist, diese Arbeit zu leisten. Daß es dabei Probleme mit dem Rechtsextremismus gibt, läßt den alten Mann, der ich bin, relativ unbesorgt. Ich glaube, daß die Rechtsextremisten keine echte Zukunft haben.

Es gibt zwei Faktoren, die den Rechtsextremismus begünstigen: erstens die Arbeitslosigkeit – aber die ist hier geringer als bei uns in Frankreich – und zweitens die Einwanderung. Die Verkettung von Arbeitslosigkeit und Einwanderung ist natürlich ein explosives Gemisch und schafft in der Tat günstige Voraussetzungen für die Rechtsextremen. Deshalb hat der Rechtsextremismus gewalttätige Formen angenommen. Aber in Deutschland sind die Formen, die sozialpolitischen Erschütterungen, immer sehr gewalttätig gewesen. So war es auch zu Zeiten der Roten Armee Fraktion. Auch in dieser Hinsicht gibt es also keinen Anlaß zur Sorge. Man muß sich natürlich darum kümmern, man muß wachsam bleiben und dagegen protestieren. Man muß seinen Bürgerpflichten Genüge tun. Das ist alles.

Bildet jeder Konflikt einen Widerstreit im Sinne Ihres Buches „Der Widerstreit“? Wie verhalten sich Kriege, Nationalismus oder Rassismus zu Ihrem Nachdenken über Dissens und Widerstreit?

Ich glaube, daß es in jedem von uns etwas Widerstreitendes gibt, etwas, das unaufhörlich gegen unseren eigenen Diskurs protestiert. Das kann der Todestrieb sein, die Aggressivität, letztlich alle Leidenschaften, die sich in Dingen ausdrücken, die Sie genannt haben, die sich aber auch anders ausdrücken und die das politische und das soziale Unbewußte bilden. Dieses Bedürfnis, sich mit einem Führer zu identifizieren – ich meine das ganz allgemein, nicht einfach nur in bezug auf Hitler, sondern im Sinne von „guide“, Leitfigur oder Vaterfigur. All diese Dinge sind in jedem von uns gegenwärtig, vielleicht, weil sie mit unserer Kindheit zusammenhängen, mit Verletzungen, die wir nicht kennen, und sie widerstehen dem Diskurs in allen Auseinandersetzungen und Verhandlungen. Das sollte nicht vergessen werden, aber es wird ständig vergessen. Man meint immer, man werde dahin gelangen, daß alle übereinstimmen, aber das kann nicht sein. Denn wir stimmen mit uns selbst nicht überein.

Ich möchte dem noch eines hinzufügen: Meine Antworten sind nicht einfach unbesorgt, sie sind zugleich auch verzweifelt. Ich meine, daß die eigentliche Aufgabe jedes Bürgers heute eine vollkommen andere ist als zur Zeit der Aufklärung. Vor zwei Jahrhunderten ging es darum, zu einer Gesellschaft freier und aufgeklärter Bürger ohne Vorurteile zu gelangen. Ich denke, dieses Ideal ist heute kein Ideal mehr.

Worum geht es dann?

Wir befinden uns in einem globalen System, das aus mehr oder weniger integrierten Teilen besteht. Wir gehören zum entwickelten Kern des Systems. Um ihn herum gibt es einen weniger entwickelten Außenring, der ins Zentrum drängt. Das System entwickelt sich von selbst. Alles, was man ein wenig albern Technik nennt, ist weit mehr als nur Technik. Die Technik ist ein Beziehungssystem, in dem wir gefangen sind. Und wir arbeiten alle, jeder an seinem Platz, wissentlich oder unwissentlich, an dieser Entwicklung. Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach der Zweckbestimmung kindisch geworden.

Das System entwickelt sich. Es strebt nach nichts, es entwickelt sich wie ein nicht-entropisches System, das unaufhörlich neue Energien erbeutet und Informationen hortet, um seine Leistung zu steigern. Dieses System dient zu nichts, es benötigt keine Ideologie, es gibt auch keine Ideologie mehr – und die Armut der rechtsextremen Gruppen besteht genau darin, daß sie versuchen, aufs neue Ideologien zu errichten, wo doch kein Mensch mehr nach Ideologien fragt. Jeder arbeitet für das System, fristet sein Dasein, so gut es ihm möglich ist, und nimmt an dieser allgemeinen Verkomplizierung teil. Die große Schwierigkeit liegt darin, die Entwicklung für die Menschen erträglich zu machen, weil das System den Menschen immer weniger braucht. Daher rührt zum Beispiel die Arbeitslosigkeit. Das System benötigt nur Gehirne, mehr nicht. Jedenfalls keine Menschen.

In „Das postmoderne Wissen“ haben Sie geschrieben: „Man muß zu einer Idee und einer Praxis der Gerechtigkeit kommen, die nicht an jene des Konsens gebunden ist.“ Wie denken Sie heute darüber?

Als Sie mich fragten, ob jeder Konflikt einen Widerstreit in meinem Sinne bildet, habe ich natürlich geantwortet: nein. Selbstverständlich nicht. Und es ist sehr schwer zu sagen, auf welche Konflikte das zutrifft. Wie dem auch sei, wir versuchen doch immer zu verhandeln, das heißt, alle Konflikte in eine Art Rechtsstreit zu verwandeln und eine Lösung zu finden. Das gehört zum System. Das bedeutet, daß das System kein Potential an Triebkraft außen vor lassen kann – also Triebkräfte, die einfach so da wären, ungenutzt, treibend. Im Gegenteil, sie müssen unbedingt nutzbar gemacht werden, operationalisiert werden, wie wir heute so schön sagen.

Worauf ich hinaus will, ist dies: Es gibt in jedem von uns Widerstreitendes, weil es Triebkräfte in uns gibt, die, aus unserer Kindheit herkommend, sich versteckt halten, sich einer unmittelbaren Nutzung entziehen. Man weiß nicht, was man mit ihnen anstellen soll. Jede Erziehung läßt einen Rest dieser Kräfte übrig, der nicht ins System einfließt, der für das System nicht nützlich ist. Von daher kommen die Leidenschaften, die Irrtümer, die Verbrechen. Von daher kommen aber auch die Literatur und die Künste: Dort gelingt es, von dieser Sache in uns Zeugnis abzulegen, dieses Ding in uns zu bekunden, das wir weder benennen noch benutzen können, das uns aber beherrscht.

Es gibt also Triebkräfte, Energien, die einen Rest bilden, der für das System nicht verwertbar ist?

Ja, aber so einfach ist das nicht. Für die Literatur oder für die Künste würde ich beispielsweise sagen: Wirklich bemerkenswert ist doch, welches Verhältnis sie zur Sprache haben, zur Welt der Farben und Formen. Denn gerade in der Art dieses Verhältnisses gilt es, den nutzlosen Charakter von Wörtern und Farben zu bewahren. Vor zwei Tagen erst habe ich mit einem Künstler darüber diskutiert. Er sagte: Hör mal, was willst du denn noch über Malerei sagen, wenn sie zu nichts nütze ist? Genau das denke ich auch. Man muß verstehen, daß die Beziehung, die ein Schriftsteller zur Sprache hat, nichts mit Kommunikation zu tun hat.

Die Gerechtigkeit, von der ich gesprochen habe, ist eine Gerechtigkeit, die auf diese Reste, auf diese Spuren der Triebkraft achtet, diese, wie Freud sagen würde, freischwebenden Reste. Und in diesem Sinne kann man sagen, daß man jemandem nicht gerecht wird, wenn man diese Reste nicht achtet, die sein Genie ausmachen, seine Kreativität, wenn man sein Anderssein nicht achtet. Das macht sein Anderssein aus, und das Anderssein ist in jedem von uns, und oft ist es uns selbst nicht bekannt. Die wahre Gerechtigkeit besteht darin, diesem inneren Anderssein gerecht zu werden, auf es Rücksicht zu nehmen.

Sie haben stets Heterogenität und Dissens betont. Welchen Stellenwert hat das schlechthin Gegebene in Ihrem Denken: die Erde, der Körper?

Das ist der Gegenstand des Buches, das ich gerne schreiben möchte, wenn ich das nächste Buch fertig habe. Dieses Buch wird eine Art Fortsetzung von „Der Widerstreit“ sein, die denselben Themenkreis behandeln soll, aber unter dem Blickwinkel genau dieser Fragen nach dem Körper, der Geschlechterdifferenz, der ästhetischen Probleme usw. Denn über diese Fragen finden Sie nichts im „Widerstreit“.

Fortsetzung auf Seite 15

Fortsetzung von Seite 14

Ich gebe Ihnen vollkommen recht. Bemerkenswert an all diesen Fragen ist, daß es immer etwas gibt, man meint zumindest, daß es immer etwas gibt, das gegeben ist. Das dachte auch Kant, und deshalb bin ich Kantianer. Unter allen deutschen Philosophen schätze ich ihn noch immer am meisten. Es gibt also das Gegebene.

Mich interessiert vor allem, was man, in Sätzen ausgedrückt wohlgemerkt, wie im „Widerstreit“, mit dem Gegebenen machen kann.

Sie sprechen in Ihrem Buch „Der Widerstreit“ davon, daß sich der Widerstreit zuallererst im Gefühl zu erkennen gibt, noch bevor er zur Sprache gefunden hat. Braucht der Philosoph die Sensibilität des Künstlers? Was unterscheidet den Philosophen vom Künstler?

Das hängt davon ab, was man unter einem Philosophen versteht. Wenn man meint, ein Philosoph sei jemand, der versucht, ein begriffliches Gedankengebäude zu errichten, das so klar und so verständlich wie möglich ist, dann ist der Unterschied zum Künstler offensichtlich. Ziel des Künstlers ist es nicht, aufzuklären, sondern die Gefühle anzusprechen, eine Gemütsbewegung hervorzurufen. Wenn man hingegen den Philosophen für jemanden hält – und ich denke, man ist heute mehr oder weniger gezwungen, ihn als solchen zu verstehen –, der weit weniger an das begriffliche Denken glaubt als vor einigen Jahrhunderten, verschieben sich die Gewichte. Dem heutigen Philosophen fällt es schwer, zum Beispiel Leibnizianer zu sein. Erstens, weil die Begriffe heute größtenteils in den Bereich der Wissenschaften übergegangen sind – wer wirklich Systeme theoretischer Aufklärung will, muß sie bei den exakten Wissenschaften suchen, dies ist nicht mehr die Aufgabe des Philosophen –, und zweitens, weil der Philosoph gleichzeitig zu begreifen beginnt, daß der Begriff nicht nur aufklärend, sondern zugleich auch verdunkelnd wirkt. Und vor allem, daß er verdrängt, daß er gar nicht anders kann, als das Affektive zu verdrängen.

Was aber wird in diesem Moment aus dem Philosophen? Er ist nicht mehr derjenige, der Systeme errichtet, Theorien aufstellt, sondern jemand mit einer eher reflexiven und meditativen als einer konklusiven Schreibweise.

Als Beispiel würde ich hier die Denkweise Sigmund Freuds nennen. Er ist kein Philosoph, unternimmt aber dennoch die allergrößte Anstrengung, mit Begriffen ans Ziel zu gelangen. Doch aufgrund seiner praktischen Erfahrungen wechselt er seine Systeme alle zehn Jahre, und ansonsten entdeckt er Neues. Seine Denkweise ist das Modell eines reflexiven und auch meditativen Denkens, das der Kunst wahrscheinlich viel näher steht als der traditionellen akademischen Tradition. Das ist ein wirklich mutiges Denken.

Im Zusammenhang Ihrer Auseinandersetzung mit der modernen Kunst haben Sie sich vor allem für das Erhabene in der Kunst interessiert. Wie ist Ihre Stellung zu den konträren Bewegungen der Kunst, die sich dem Alltäglichen, Banalen und Kaputten nähern?

Ja, Trash-art, das gibt es. Nein, wissen Sie, man hat und auch ich habe ganz sicher sehr viele Dummheiten über das Thema des Erhabenen gesagt. Es gibt keine erhabene Kunst, und es gibt keinen erhabenen Gegenstand. Das ist ein Grundsatz. Das Erhabene ist ein Gefühl. Es ist ein Gefühl, das ästhetisch genannt wird. Häufig wird das Wort erhaben verwendet, um einfach zu sagen, daß etwas sehr schön ist. Dagegen behaupte ich, daß man unter der Problematik des Erhabenen, insbesondere der, die Kant in der dritten Kritik untersucht hat, etwas anderes verstehen muß, nämlich daß der Künstler es mit dem zu tun hat, was er nicht sagen kann, was er nicht sichtbar machen kann.

Das wirklich Wichtige an einem Gemälde ist gerade das, was man, wie zum Beispiel Braque gesagt hat, nicht sehen kann. Das heißt, die Malerei deutet auf etwas hin, was jenseits des Sichtbaren liegt. Und wenn man die großen Schriftsteller liest, liest man natürlich sprachliche Anspielungen auf etwas, das sie sprachlich nicht fassen können. Das sie nicht schlicht und einfach darlegen, auf den Tisch legen können. Das ist eigentlich alles.

Und im Grunde ist die moderne Kunst so bewundernswert, weil wir dies durch sie verstanden haben, weil wir es durch sie in der gesamten künstlerischen Tradition wiederentdeckt haben.

Wenn man Picasso liest oder Juan Gris oder Matisse oder Braque, die schließlich zu den ganz Großen gehören, so sagen alle dasselbe, nämlich: Wir vollziehen keinen Bruch mit der Kunst vergangener Tage, sondern wir sind ihre Anamnese, ihre Vergegenwärtigung.

Eines Tages hatte Picasso eine kleine Figur von den Kykladen entdeckt, dreitausend Jahre alte, nordgriechische Kunst. Picasso stellte fest, daß es sich dabei um eine Form handelte, die die seine war. Er entdeckt also die alte Kunst wieder. Dasselbe gilt für die letzten Aquarelle von Cézanne, die uns die frühesten chinesischen Aquarelle zu Gesicht bringen, die sie uns verstehen lassen.

Mein Augenmerk gilt also vielmehr dem Aspekt der Erinnerung in der modernen Kunst, und wenn es das Erhabene gibt, so findet sich davon selbstverständlich überall in der Kunst ein bißchen. Alle große Kunst ist in der Tat erhaben in dem Sinne, in dem sie andeutet, daß es etwas Unsichtbares gibt.

Interview: Jörg Herrmann