Hungerstreik gewaltsam beendet

■ Albanische Sicherheitskräfte verhaften über 200 ehemalige politische Häftlinge / Den Initiatoren drohen Haftstrafen

Wien (taz) – Albanische Sicherheitskräfte beendeten gestern gewaltsam einen landesweiten Hungerstreik ehemaliger politischer Häftlinge und deren Symphatisanten. In der Hauptstadt Tirana drangen gegen zwei Uhr früh etwa 200 schwer bewaffnete Polizisten in das Gebäude des Vereins der ehemaligen politischen Gefangenen ein und nahmen an die einhundert Streikende fest. Zur Begründung hieß es, in dem Anwesen sei ein umfangreiches Waffen- und Munitionslager eingerichtet worden. Obwohl die Demonstranten sich widerstandslos abführen ließen, kam es vereinzelt zum Einsatz von Gummiknüppeln. Den Initiatoren des Hungerstreiks droht nun eine Anklage wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Aufruhr gegen das politische System.

Nach Angaben des Vorsitzenden der Ex-Häftlinge, Kurt Kola, befanden sich seit vorigem Donnerstag in etwa 40 Städten des Landes über 2.500 zu Zeiten des kommunistischen Regimes Gefangene und Verbannte im Hungerstreik, um gegen Korruption und Vetternwirtschaft in Regierung, Verwaltung und Justiz zu demonstrieren. Im Namen von 120.000 Betroffenen, die aus politischen Gründen bis zur Wende 1990 in Gefängnissen oder Verbannungsorten ihr Dasein fristen mußten, forderten sie eine angemessene Entschädigung, das Recht auf Wohnraum und einen Arbeitsplatz. Albaniens Präsident Sali Berisha hatte zu Beginn seiner Amtszeit zwar die Ansprüche als „gerechtfertigt“ bezeichnet, dabei aber stets auf die leere albanische Staatskasse hingewiesen.

In der vorigen Woche verschärfte der selbstherrliche Staatschef dann seine Angriffe gegen die Protestbewegung. Die ihm ergebene bürgerliche Regierung ließ in einer Erklärung verlauten, die Hungerstreikenden seien „Abenteurer“ die sich mit den „finstersten Kräften“ verbunden hätten, um einen „Putsch gegen die Demokratie“ anzuzetteln. Ob einer derartigen Bedrohung sah Berisha dann anscheinend keinen anderen Ausweg mehr, als die Protestwelle mit einem massiven Polizeiaufgebot zum Schweigen zu bringen. Zumindest im Moment scheint dies geglückt zu sein: Der Protest wurde gestern auch dort beendet, wo die Sicherheitskräfte nicht eingeschritten waren.

Paradoxerweise stehen hinter den ehemaligen politischen Häftlingen mittlerweile auch deren ehemalige Peiniger. Wendekommunisten und Altdissidenten werfen Berisha vor, mit seinem totalitären Führungsstil die „verwerfliche Tradition der alten Diktatur“ zu übernehmen. Berisha baue eine Familiendynastie auf, die vom Rechtswesen bis zur Innen- und Außenpolitik alles bestimme. Auch gegen Regimekritiker würden die alten Methoden angewandt: Sie landeten im Gefängnis. Tatsächlich sitzen bisher an die hundert Altstalinisten wegen „Bereicherung am Volksvermögen“ und „Amtsmißbrauch“ hinter Gittern. Und anscheinend ereilt nun auch die Altdissidenten ein ähnliches Schicksal. Karl Gersuny