Optimaler Aroma-Einzug

■ Nach drei Stunden geht nichts mehr: Schwerstarbeit Teekosten / DerImporteur Kurt Marthiens degustiert seine Ware noch selbst / Rausch der Sinne im Industriegebiet

Wer in der Ödnis des Oytener Industriegebietes die schmucklose grüne Halle sieht, der kann nicht ahnen, welch köstlichem Gewerbe darin nachgegangen wird. Der Teeimporteur Knut Marthiens degustiert (verkostet) dort sein Produkt, und das ist eine hohe Kunst. Er ist einer der wenigen Händler in und um Bremen, der seine Ware noch selbst prüft. Der Verkoster lebt von von seinem verfeinerten Ge- schmackssinn, mit dem die Sensibilisierung der Nase einhergeht. „Kaffeetrinker erkenne ich am Körpergeruch“, sagt Marthiens, „auch wenn sie gerade keinen Kaffee getrunken haben“. An seinen Geschmacksnerven hängt der Erfolg des Unternehmens: „Meine Aufgabe ist, die erreichten Qualitäten und Besonderheiten meines Tees zu halten.“ Er prüft, ob die Ernten geschmacklich mit denen des Vorjahres aus denselben Gärten vergleichbar sind, um die beim Kunden geweckten Erwartungen zu erfüllen.

Niemals degustiert der gebürtige Berliner vor zehn Uhr vormittags. „Das hängt mit meinem Biorhythmus zusammen. Zwischen elf und eins nehme ich die meisten Nuancen wahr.“ Marthiens verzichtet auch auf den Kaffee- und Tabakgenuß: Selbstkasteiung im Dienst an der Sache. Privat trinkt er weitgehend grünen, also unfermentierten Tee. „Der öffnet die Kapillaren, also die feinen Blutgefäße, und beeinflußt den Stoffwechsel positiv. Außerdem führt er zu besseren Rechenleistungen, wie Versuche mit amerikanischen Studenten bewiesen haben.“ Wichtig für einen Kaufmann, der Marthiens als Importeur natürlich auch ist.

Das Verkosten selbst beginnt keineswegs sofort mit dem Aufgießen und dem Trinken. Am Anfang steht der optische Befund. Das Auge trinkt mit. „In der Probierküche haben wir eigens neue Fenster eingebaut, um Nordlicht zu haben“, wegen des gleichmäßigen Lichts. Das ermöglicht einen besseren Vergleich der Sorten und eine erste Qualitätsprüfung. 20 Proben zu jeweils 2,6 Gramm auf weißem Papier liegen heute vor ihm. „Hier ist ein grüner Einwurf“, sagt er bei der elften durchgesehenen Probe. „Da waren einige Blätter zu trocken für die Fermentation.“ Das ist die leichte Vergärung in feuchtwarmer Atmosphäre, durch die man schwarzen Tee gewinnt, erklärt Marthiens. Jedes Häuflein läßt er durch die Finger gleiten, und bewittert es innig mit geöffnetem Mund – eine spezielle Riechtechnik, zum optimalen Aroma-Einzug. Marthiens fühlt und schnuppert sich an die Qualtiät des Tees heran. Aus demTastbefund zieht er erste Rückschlüsse über den Zustand des Tees und seine Verarbeitung: Sind es junge oder alte Blätter, ist die Fermentation abgeschlossen oder unterbrochen. Der Dufttest verrätihm eine mögliche unsachgemäße Lagerung der Ware.

Erst dann gießt eine Mitarbeiterin die Proben in kleinen Kännchen auf und läßt sie fünf Minuten ziehen. „Für den normalen Konsumenten wäre der Tee zu stark, aber der Verkoster kann so die ganzen Möglichkeiten des Tees erschmecken“, erläutert Marthiens und tut den ersten Schluck. Er schlürft kräftig, um Luft anzusaugen, zieht die Flüssigkeit in den Gaumen und sprüht sie in den hinteren Rachenraum. Die Zunge allein schmeckt ja nur das Grobe, das plumpe Süße, Saure und Bittere. In der Verbindung zum Nasenraum aber regen die Aromata die Geruchszellen an. Dort wird mit Feinsinn das Universum geschmacklicher Vielfalt differenziert. Erst an dieser Stelle, bei gutem Luftzug, entfalte sich die Blume des Tees optimal, sagt der Probiermeister, nachdem er den Tee in einen Napf ausgespuckt hat, wie es alle Verkoster tun, um den Magen nicht mit der Flüssigkeit vollzupumpen.

Zur Zeit reizt Marthiens seine Geschmacksnerven besonders gerne. „Ich degustiere augenblicklich auch sehr feine Proben der zweiten Pflückungsperiode aus dem Darjeelinggebiet, den Second Flush. Weil das Teeblatt nachwächst, gibt es immer mehrere Pflückungsperioden.“ Und da soll der Second Flush besser sein? „Der First Flush ist zwar hell und frisch, war aber nur kurze Zeit am Teebaum. Doch der Second Flush hat mehr Sonne bekommen, ist langsamer gewachsen, hat die feinere Blume und das reichere Aroma“, schwärmt Marthiens.Da zahlt der Endkäufer für hundert Gramm schon einmal 30 Mark für einen hochwertigen Second Flush. Manche ziehen auch den spät gepflückten und billigeren Autumnal oder den Wintertee mit seiner besonders kräftigen Tasse, dem First Flush vor. „Das ,First' ist beim Tee eben nicht gleichzusetzen mit dem Hochwertigsten.“

Der 53jährige muß es wissen: seit zehn Jahren verkostet er drei bis vier Mal pro Woche bis zu 200 Teemuster, die ihm Agenten oder die Gartenbesitzer selbst zuschicken. Seinen Geschmackssinn hat er in Triangeltests trainiert: von drei Proben sind zwei gleich, die dritte enthält eine andere Sorte. Ohne weiteres Wissen muß er die identischen Muster vom abweichenden unterscheiden können. Ist der Verkoster geübt, dann weiß er die Sorten auch wiederzuerkennen .

Knut Marthiens hat vor 27 Jahren mit dem Degustieren und dem Handel von Spirituosen und Kaffee angefangen, bis er das alternative Teegeschäft eines Frankfurter Importeurs übernahm. Dem war die Eigenkapitaldecke zu dünn geworden und Marthiens erfüllte sich den Traum von der Selbständigkeit mit Geschmack. „Das Degustieren ist Schwerstarbeit für die Nerven, nach zwei bis drei Stunden ist man völlig geschafft, dann muß ich aber selbstverständlich noch die kaufmännischen Dinge besorgen“, erzählt er gelassen. Wie er überhaupt alles gemessen tut und ebenso spricht. Ist das der Tee, der ja angeblich das Gemüt festigt und seinen Freunden Seelenstärke einflößt? „Angesichts des beruhigenden Wirkstoffs Theanin ist das eigentlich logisch. In Gefühlsangelegenheiten bin ich jedenfalls sehr stabil“, sagt Marthiens. Und verweist darauf, daß die Ostfriesen 25 Prozents des deutschen Teeimports konsumieren, obwohl sie nur zwei Prozent der Bevölkerung stellen: „Und die Ostfriesen sind schließlich für ihren starken Charakter bekannt. Jedenfalls neigen sie nicht zu überschäumenden Emotionen.“ Alois Bierl