AZT: „Gift oder Hoffnung?“

AZT schützt Babies vor dem Aids-Virus / Unklarheit über mögliche Langzeitfolgen  ■ Von Manfred Kriener

Zu den herausragenden und hoffnungsvollen Ergebnissen der Aidsforschung, die auf dem Weltkongreß in Yokohama vorgestellt wurden, gehört eine Studie mit Schwangeren. In einer Placebo- kontrollierten Untersuchung haben französische und US-Wissenschaftler eine unerwartet dramatische Reduzierung der HIV-Übertragung von der Mutter zum Kind festgestellt, wenn das antivirale Mittel Azidothymidin (AZT) verabreicht wurde. Die Ansteckungsquote ging um zwei Drittel zurück. Während in der Placebo-Gruppe 25,5 Prozent der Neugeborenen infiziert wurden, waren es in der AZT-Gruppe nur 8,3. Trotz dieser eindrucksvollen Zahlen bleibt der AZT-Einsatz umstritten.

Weltweit sind eine Million Kinder mit dem Aids-Virus HIV infiziert, bis zum Jahr 2000 droht ihre Zahl auf drei Millionen anzuwachsen. Ihre mittlere Überlebenszeit liegt bei vier bis fünf Jahren. Die Zeit bis zum Ausbruch der Krankheit ist deutlich geringer als bei Erwachsenen, bei denen zwischen Ansteckung und Erkrankung etwa zehn Jahre vergehen. Bei Kindern gibt es zwei stark unterschiedliche Verlaufsformen: Viele sterben schon in den ersten beiden Jahren, andere können acht bis zwölf Jahre und vermutlich noch älter werden. In der Regel wurden die Kinder von ihrer infizierten Mutter während der Schwangerschaft oder Geburt angesteckt. Der genaue Zeitpunkt der Ansteckung und ihr Mechanismus sind nach wie vor ungeklärt. Ebenso ist unklar, weshalb die Ansteckungsrate in Afrika (33 Prozent) deutlich über dem weltweiten Durchschnittswert (23 Prozent) liegt.

Der Berliner Gynäkologe Axel Schäfer fand heraus, daß die nach einem Kaiserschnitt geborenen Kinder sehr viel seltener infiziert waren. Andere Wissenschaftler widersprechen, sie sehen keinen Zusammenhang zum Geburtsmodus.

In dieser unklaren Situation gibt die AZT-Studie neue Hoffnung. An der im April 1991 gestarteten multizentrischen Untersuchung waren 364 Schwangere in Frankreich und den USA beteiligt, von denen 180 AZT und 184 das Placebo erhalten hatten. Voraussetzung für die Teilnahme an der Studie war eine Zahl von mehr als 200 CD4-Helferzellen. Außerdem mußten die Frauen frei von Aids- Symptomen sein, und sie durften noch keine antivirale Therapie mit AZT absolviert haben. Die AZT- Therapie begann bei den Schwangeren im Mittel ab der 23. Woche (fünfmal täglich hundert Milligramm). Die Neugeborenen erhielten AZT während der ersten sechs Wochen nach der Geburt.

Der französische Kinderarzt Jacques Blanche sprach in Yokohama von einer „unglaublichen Hoffnung“ durch die erfreulichen Ergebnisse. AZT müsse jetzt den Entwicklungsländern schnell zur Verfügung gestellt werden, weil dort die meisten Mutter-Kind-Infektionen auftreten. Andere Wissenschaftler wollten die Euphorie des Franzosen nicht teilen. Schon vor dem Kongreß hatte die angesehene britische Mediziner-Zeitschrift Lancet die Frage gestellt, ob der AZT-Einsatz „Hoffnung oder Gift“ für Schwangere und Neugeborene bedeute. AZT gilt als toxisches Medikament, bei dem, je nach individueller Verträglichkeit, schwere Nebenwirkungen bis hin zu einer gestörten Blutbildung auftreten können.

Gegenwärtig ist noch völlig unklar, wie die Kinder die frühzeitige Konfrontation mit dem Arzneimittel während der Schwangerschaft vertragen haben. Über Langzeitfolgen kann frühestens in zwei bis drei Jahren berichtet werden. Bislang gibt es zwar keine Hinweise auf Schädigungen, aber die Gefahr unbekannter Langzeitschäden ist erheblich und muß gegen den möglichen Nutzen abgewogen werden – eine extrem schwere Entscheidung. Hinzu kommt, daß für die meisten Kinder die AZT-Therapie unnötig ist, weil ja 77 Prozent bislang gesund zur Welt kamen. Zudem: Auch für die Frauen ist der frühzeitige AZT-Einsatz kritisch. Das Risiko könnte verringert werden, wenn AZT nur in der letzten Phase der Schwangerschaft und während der Geburt verabreicht würde.

Das Deutsche Aidszentrum wies jetzt darauf hin, daß trotz der erfreulichen Ergebnisse der Studie bislang noch kein Land eine klare Empfehlung zum AZT-Einsatz bei Schwangeren ausgegeben hat. Am ehesten wäre dies für die afrikanischen Länder zu erwarten, wo die Übertragungsquote besonders hoch ist. Doch dort kann sich niemand das sündhaft teure Mittel leisten: Der Apothekenpreis für 40 Kapseln mit je 250 Milligram Wirkstoff liegt in der Bundesrepublik derzeit bei 519,86 Mark. Der Gesundheitsetat vieler afrikanischer Länder schwankt zwischen 2 und 5 Mark pro Kopf und Jahr.

Die AZT-Studie wurde in Kooperation mit der Pädiatrischen „Aids Clinical Trials Group“ des „National Institute of Allergy and Infectious Diseases“, des „National Institute of Health and Medical Research“ in den USA und der französischen „National Agency of Research on Aids“ durchgeführt.