Ungewohntes Terrain für Krankenkassen

Seit der Gesundheitsreform haben Krankenkassen die Möglichkeit, Selbsthilfegruppen zu fördern / Inzwischen haben Berliner Kassen Richtlinien ausgearbeitet / Viele Anträge liegen vor  ■ Von Anna Hanke

Will Manfred Möckelmann von der Interessengemeinschaft „Künstliche Niere und Transplantation“ (IKN e.V.) alle 690 Berliner Mitglieder zu einer Versammlung einladen, muß er allein knapp 700 Mark Porto zahlen. Um solche Ausgaben zu decken, bewarb sich Möckelmann bei der Barmer Ersatzkasse um Förderung. Die Barmer verwies ihn an den Bundesverband von IKN e.V., denn die Ersatzkassen fördern grundsätzlich den Bundesverband einer Selbsthilfeorganisation, soweit es einen gibt. Der Bundesverband soll die Gelder dann an seine Ortsgruppen weiterleiten. Als Möckelmann beim Bundesverband nachfragte, hatte dieser insgesamt 510 Mark zur Verteilung an die Ortsgruppen erhalten. Das dürfte nicht einmal für die Portokasse reichen.

Erst langsam beginnen die Krankenkassen, Sinn und Nutzen von Selbsthilfegruppen vor allem bei der Prävention und der Bewältigung chronischer Krankheiten zu erkennen. Vor eineinhalb Jahren, bei der letzten Gesundheitsreform, wurde den Krankenkassen explizit die Möglichkeit der Selbsthilfeförderung eingeräumt. „Die gesellschaftliche Bedeutung der Selbsthilfe wurde durch diese Regelung aufgewertet“, meint Anke Buchholtz-Gorke, Diplom-Psychologin bei der Selbsthilfekontakt- und Informationsstelle (Sekis).

Unterschiede zwischen Theorie und Praxis

Inzwischen haben alle Bundesverbände der gesetzlichen Krankenkassen Richtlinien ausgearbeitet, nach welchen Kriterien sie Selbsthilfegruppen und Kontaktstellen fördern wollen. Die AOK Berlin konzentriert sich dabei nach Angaben von Waltraud Perkams, Mitarbeiterin der Abteilung Gesundheitsförderung, auf projektbezogene Förderung sowie die Förderung von Kontaktzentren. Die Barmer Ersatzkasse in Berlin befindet sich noch in der „Orientierungsphase“, sagt Karin Schmedding von der Abteilung Gesundheitsförderung: „In den letzten Wochen sind verstärkt Anträge eingetroffen, die noch zur Entscheidung anliegen.“ Dabei will die Barmer individuell entscheiden, ob ein Projekt unterstützt wird oder die Kosten für Sachmittel übernommen werden.

Die Förderrichtlinien der Krankenkassen bezeichnet Heike Drees vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV) als „sehr schön“. Doch sieht sie auch die Unterschiede zwischen Theorie und Praxis. Sie weiß von einigen Gruppen, die sich Anfang diesen Jahres um Fördermittel beworben hatten und mit den unterschiedlichsten Begründungen abgewiesen wurden. So schildert Sabine Ruda von der Gruppe „Hilfe zur Selbsthilfe Allergiker und Asthmatiker“, daß ihre Gruppe mehrere Kassen angeschrieben habe. Doch seien von allen ablehnende Bescheide gekommen, mit der Begründung, daß die Kassen sich „nicht kompetent fühlten und daß keine finanziellen Mittel vorhanden seien“. Lediglich die AOK habe auf einen späteren Zeitpunkt verwiesen.

Die Förderung der Selbsthilfe gehört zu den wenigen Bereichen, in denen die Kassen untereinander in Wettbewerb treten können. Da die Versicherten ab 1997 ihre Krankenkasse frei wählen können, herrscht zur Zeit ein verstärkter Konkurrenzkampf unter den Kassen. Auf die Förderung der Selbsthilfegruppen wirkt sich das Buchholtz-Gorke von Sekis zufolge in Form einer „Exklusivstrategie“ der Kassen aus: Wenn eine Gruppe oder Kontaktstelle von einer bestimmten Kasse gefördert wird, dann akzeptiert diese neben sich keine andere Kasse.

Bredouille für das Land Berlin

Als Kriterium, welche Selbsthilfegruppen für eine Unterstützung geeignet sind, zählt vor allem für die Ersatzkassen, daß „der Senat die Förderungswürdigkeit anerkannt hat“, wie Schmedding von der Barmer erklärt. Faktisch sollen also nur Gruppen unterstützt werden, die bereits vom Senat gefördert werden. So sieht Drees vom DPWV auch die „Bredouille für das Land Berlin“: Die Gruppen bleiben lieber bei der Senatsförderung, denn da sei eine gewisse Kontinuität gesichert, so daß zwischen Kassen und Senat keine Arbeitsteilung bei der Förderung stattfinde. Neugegründete Gruppen haben auf diese Weise überhaupt keinen Zugang zu den Fördermitteln der Krankenkassen. In der Regel wollen die Kassen im Gegenzug zur Förderung stärker an der Arbeit der Selbsthilfegruppen beteiligt werden. So meint Perkams von der AOK: „Die meisten fordern Geld, wir fordern eine vernünftige Zusammenarbeit.“

Anke Buchholtz-Gorke von Sekis fordert, daß Kassen und Selbsthilfegruppen nicht nur über Geld reden, sondern auch die inhaltliche Zusammenarbeit verstärken sollten. Die Krankenkassen sollten insgesamt über das heterogene Feld der Selbsthilfeinitiativen besser informiert werden, so daß deren Mitarbeiter Versicherte auf passende Selbsthilfegruppen hinweisen können. Umgekehrt könnten die Kassen insbesondere ihr sozialrechtliches Wissen an die Initiativen weitergeben. „Es wäre fatal, wenn der Selbsthilfebereich als bloßer Almosenempfänger den Krankenkassen gegenübertritt.“

Wie wenig sich der Selbsthilfegedanke bei den Kassen durchgesetzt hat, zeigt das Beispiel der Selbshilfekontaktstelle Sein e.V., die im Haus der AOK untergebracht ist. Die Abteilung Gesundheitsförderung der AOK übernimmt die Kosten für den Druck einer Broschüre der Selbsthilfekontaktstelle. Und auch Gertraude Wagner von Sein e.V. preist die gute Zusammenarbeit mit der Abteilung Gesundheitsförderung an. Bis jetzt scheint die Kooperation jedoch auf diese Abteilung beschränkt. Denn Mietnachlaß gewährt die AOK der Kontaktstelle nicht: „Wir bezahlen sehr viel Miete, vierzig Mark pro Quadratmeter“, sagt Wagner. Wegen der Miete mußte Sein e.V. – noch vor der Seehoferschen Gesundheitsreform – mit der Grundstücksverwaltung der AOk verhandeln, „die mit Selbsthilfe überhaupt nichts anfangen konnte“.

Prinzipiell funktioniert in Berlin die Selbsthilfeförderung durch den Senat gut. Deswegen sollten hier die Selbsthilfegruppen und Kontaktstellen die Krankenkassen möglichst nur zur Finanzierung zusätzlicher Projekte heranziehen, meint Buchholtz-Gorke von Sekis. Die Selbsthilfeinitiativen dürften sich dabei „nicht verkaufen, sie müssen ihre Autonomie, ihre Unabhängigkeit bewahren“.