„In Mexiko zweifelt man an allem“

Zum erstenmal seit 65 Jahren gerät die Herrschaft der Partei der Institutionalisierten Revolution ins Wanken / Präsidentschaftswahlen am kommenden Sonntag  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid

Die Ankündigung von Präsident Salinas war der mexikanischen Landespresse immerhin die Schlagzeile wert: Er werde die Macht an den Gewinner der Präsidentschaftswahlen übergeben, welcher Partei dieser auch immer angehören möge. Was Ausländern als selbstverständliche Spielregel eines jeden parlamentarischen Systems erscheinen mag, muß in mexikanischen Ohren fast wie eine Verheißung klingen. Denn niemals zuvor hat die herrschende Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), als selbsternannte Erbin der ersten Revolte dieses Jahrhunderts, Anstalten gemacht, ihre Macht auch nur zur Disposition zu stellen.

Das ist heute anders: Nicht erst seit der zapatistischen Januarrevolte, sondern schon seit den Präsidentschaftswahlen von 1988 – bei denen nach Ansicht vieler MexikanerInnen der damalige Kandidat Salinas seinen Herausforderer Cuauthémoc Cárdenas nur mit massivem Wahlbetrug überrunden konnte – scheint die Allmacht des nunmehr 65jährigen Parteidinosauriers gebrochen, ein parlamentarischer Machtwechsel zumindest vorstellbar. Zwar sind es insgesamt neun Parteien, die ihre KandidatInnen ins Rennen geschickt haben, darunter auch eine neue Ökologische Partei, aber niemand bezweifelt, daß nur zwei von ihnen die Institutionalisierten Revolutionäre am 21. August ernsthaft in Bedrängnis bringen könnten.

Da ist zum einen die linkssozialdemokratische Partei der Demokratischen Revolution (PRD), geboren aus einer oppositionellen Sammelbewegung der 88er Wahlen, die nach wie vor von dem PRI- Aussteiger Cárdenas angeführt wird. Der Sohn des legendären Präsidenten Lazaro Cárdenas (1934 bis 1940) ist die unbestrittene Galionsfigur einer ansonsten heftig zerstrittenen Partei, in deren Reihen sich ehemalige PRI-Politiker wie auch Kommunisten, SozialdemokratInnen und Feministinnen finden. Cárdenas geht es um nichts weniger als die „demokratische Neugründung“ des Landes, wie er am Samstag auf seiner fulminanten Abschlußkundgebung in der Hauptstadt verkündete. Entgegen den Unkenrufen seiner Gegner, die den 60jährigen Ingenieur gerne der Rückkehr in eine staatsfixierte Vergangenheit bezichtigen, liest sich das wirtschaftliche Programm der Cárdenas-Partei allerdings eher zahm: Nicht gerüttelt wird an Rahmenbedingungen wie Nafta, Marktwirtschaft und Auslandsinvestitionen, mit neuen Schwerpunkten auf Arbeitsplatzbeschaffung und Umverteilung. Sein radikalstes Vorhaben dürfte die Rücknahme der umstrittenen, unter Salinas eingeführten, Agrarreform sein, die eine Privatisierung der kollektiven kommunalen Bewirtschaftung ermöglichte.

Eine der größten Herausforderungen für die Demokratischen Revolutionäre besteht derzeit darin, das Image einer reinen Anti- Partei abzulegen und ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Das bestehende Mißtrauen vieler MexikanerInnen gegenüber der PRD ist aber nicht nur durch deren fehlende Regierungspraxis oder die perfide Propaganda-Maschine der PRI, die Cárdenas immer wieder als den „Kandidaten der Gewalt und des Chaos“ präsentiert, zu erklären. Es handelt sich auch um die tiefsitzende Skepsis gegenüber einer politischen Kultur, die sich letztlich noch aus den Resten des autoritären PRI- Paternalismus nährt.

Insgesamt geht der Parteienstreit 1994 eher um politische denn wirtschaftliche Themen: Die demokratische Umstrukturierung der Institutionen sowie der Abbau von Zentralismus und Präsidialsystem haben sich dabei beide Oppositionsparteien auf ihre Fahnen geschrieben. Damit aber hören die Gemeinsamkeiten schon auf: Die rechtsliberale Partei der Nationalen Aktion (PAN), die in diesen Monaten versucht, ihr Image einer reinen Unternehmer-Partei abzuschütteln, propagiert einen als „humane Ökonomie“ verkleideten Wirtschaftsliberalismus und befremdet die Öffentlichkeit vor allem durch ihr eigentümliches Demokratieverständnis. Mit Maskierten rede man nicht, war einer der Kommentare von PAN-Chef Fernández de Cevallos zur Zapatisten-Revolte. Sein Plädoyer für „den Platz der Frauen im Heim und am Herd“ trug dem 53jährigen Anwalt kürzlich faule Eier auf dem Uni-Campus ein.

Und schließlich beginnt auch der Last-minute-Kandidat der PRI, der ehemalige Bildungsminister Ernesto Zedillo, aus dem Schatten seines ermordeten Vorgängers, Luis Donaldo Colosio, herauszutreten: Hatte Colosio in einer seiner letzten Reden vor allem das Präsidialsystem gebrandmarkt, so taucht der Begriff im Diskurs des 43jährigen Ökonomen Zedillo gar nicht mehr auf. Dennoch bemüht sich dieser zunehmend, auf den fahrenden Demokratie-Zug zumindest rhetorisch aufzuspringen: Selbst die allseits geforderte Trennung von PRI und Regierung sowie Dialoge mit Kontrahenten wie Marcos und Cuauhtémoc stellt Zedillo neuerdings erstmals in Aussicht.

Nicht nur das Angebot, auch die Spielregeln haben sich verändert: Zum dritten Mal in diesem Sexenium wurde das Wahlgesetz reformiert. Danach werden diesmal sechs unabhängige Bürgervertreter – allerdings keine einzige Bürgerin – im traditionell PRI-dominierten Bundeswahlinstitut IFE an der Überwachung des Wahlprozederes beteiligt; den Vorsitz hat aber nach wie vor das PRI-Mitglied Arturo Nunez. Außerdem werden vom Generalrat des IFE erstmals ausländische „Besucher“ zu den Wahlen zugelassen – allerdings nur als stille Zeugen und nicht mit „Beobachter“-Kompetenzen ausgestattet. Akkreditiert sind für den 21. August bislang rund 1.000 Gäste aus aller Welt.

Zwischen 30.000 und 35.000 einheimische WahlbeobachterInnen werden den Behörden am Stichtag auf die Finger schauen. Mit von der Partie sind dabei sowohl unabhängige Bürgerallianzen wie die Alianza Civica, in der 200 regierungsunabhängige Organisationen (NGOs) aus dem ganzen Land zusammengeschlossen sind, aber auch PRI-nahe Organisationen, die im Verdacht stehen, Persilscheine einer „absoluten Transparenz“ ausstellen zu wollen.

Sichtlich transparenter sind in den letzten Monaten die audiovisuellen Medien geworden: Unter dem Druck der Fair-play-Kampagne von Alianza Civica, die in regelmäßigen Abständen die PRI- Lastigkeit der Medien öffentlich angeprangert hatte, sah sich selbst der regierungstreue Mediengigant Televisa gezwungen, den ungeliebten Oppositionsparteien eine bisher nie gesehene Präsenz in Bild und Ton einzuräumen. Strittigster Punkt ist nach wie vor das Register der rund 45 Millionen Wahlberechtigten. Wie schon 1988 tauchten auch diesmal wieder – nach Informationen der Wochenzeitschrift Proceso – bei Stichproben die berüchtigten „Geisterwähler“ auf: verstorbene oder fiktive Personen mit Wohnsitzen auf Friedhöfen, Parks oder nicht existierenden Ortschaften. Was das IFE als „unwesentliche Einzelfälle“ bezeichnet, bedeutet nach Einschätzung der PRD eine „Aufblähung“ der Wahllisten um bis zu vier Millionen künstliche Stimmen.

Die Vereinten Nationen aber geben sich zuversichtlich: Das reformierte mexikanische Wahlsystem ermögliche „freie und gerechte Wahlen“. Das umstrittene Wahlregister sei insgesamt, so eine von der mexikanischen Regierung in Auftrag gegebene UNO-Studie, durchaus „vertrauenswürdig“. Als direkte Wahlbeobachter wollte man allerdings auch die Vereinten Nationen nicht dabei haben. So beschränken diese sich auf die technische und finanzielle Unterstützung von 14 ausgewählten NGOs bei der Ausbildung der nationalen WahlhelferInnen.

Unabhängig aber von der technischen Sauberkeit und der konkreten Stimmverteilung am kommenden Sonntag: das Hauptproblem wird sein, den skeptischen MexikanerInnen das Resultat der Wahlen glaubhaft zu machen. So wunderte sich der oberste UNO- Wahlhelfer, Horacio Bornero, am Montag vor Journalisten in Mexiko-Stadt: „Nie zuvor haben wir ein solches Mißtrauen wie in Mexiko erlebt. Man zweifelt hier einfach an allem.“ Ein Wahlerfolg der PRI scheint zwar möglich – bei den meisten Umfragen liegt sie immer noch vorne, wobei der Vorsprung allerdings von zwei bis 20 Prozent variiert –, daß er auf altbewährte Art politisch durchsetzbar ist, ist dagegen mehr als fraglich. Einziger Ausweg aus der zu erwartenden Legitimationskrise ist nach Ansicht von renommierten Intellektuellen wie dem Schriftsteller Carlos Fuentes oder dem Politologen Jorge Castaneda eine breite Koalitionsregierung à la Südafrika.