Kinder werfen mit Eßbarem sichdoch“

■ Mit dem blauen Kamel unterwegs / Erste Lieferung: Von Leipzig nach Torgau

Leipzig, Dienstag, 16.8.1994. Nicht von ungefähr finden Karawanen historisch hauptsächlich in der Wüste statt. Es ist dort trocken. Die Blaue Karawane begann am Mittwoch letzter Woche mit Sturm und Regenschauer. Schminke verlief, Pappmacheemasken wurden weich, und das 12 Meter lange Maskottchen der Blauen Karawane, das plüschbezogene, blaue und schwimmfähige Kamel, drohte zum Flugobjekt zu werden. Einige Korrekturen am Programm der Karawane wurden notwendig.

Die Karawane in Leipzig: Das ist einerseits (Sommerloch!) ein ziemlicher Presserummel. Das Leipziger Kulturamt und verschiedene lokale Künstlergruppen haben es geschafft, ein Bremen-Leipziger Event auf die Beine zu stellen – allerdings mit dem Touch von schräger Wessi-Ideologie behaftet. Was von Bremen aus leicht wie eine obskure Mischung aus gutgemeinter Psychiatriekritik und alternativem Abenteuerurlaub aussah, erweiterte sich hier zu einem satten Kulturprogramm – die einheimische Mandelbande, Theatre du Pain aus Bremen, ein erfolgreicher Leipziger Kinderzirkus und nicht zuletzt das Blaumeier-Theater mit seinem Fast-Faust-Stück – vom Spiegel bis MDR, von SAT1 über ZDF bis Radio Bremen, von den lokalen Blättern bis zum Leipziger Kanal „Radio Energy“, der seit Tagen einen blauen Trailer abspult, waren alle schon da.

„Da“, das ist ein ehemaliger Fest- und Aufmarschplatz in Innenstadtnähe, direkt neben dem Stadion der gewesenen „Lokomotive Leipzig“. Auf dem Werner-Seelenbinder-Platz, benannt nach einem berühmten Ringer- und Arbeitersportler der 30er, steigen heute meist Rockkonzerte. Jetzt aber bilden mehrere Zelte die Karawanserei; bei schönem Wetter, das auch mal durchkommt, laufen hier wunderschön Kostümierte, Blaumeiers, ehemalige PatientInnen der Langzeitpsychiatrie Blankenburg, Bremer Lehrer und Ottersberger StudentInnen sowie einige Leipziger durcheinander, wie es sein soll.

Der Leipziger als solcher scheint dem bunten Treiben komischer Bremer eher skeptisch gegenüberzustehen. Die Aktion in der Innenstadt, sei es mit lauter Blech, dem Kamel oder Blaumeiers Halbmasken, zogen nicht die gewohnten Massen an. Im Gegenteil – man schien sorgfältig an den eigenartigen Leuten vorbeizusehen. Höhepunkt der Konfrontation war – eine Idee des hiesigen Kulturamtes – ein Besuch von Blaumeiers und Anhang passenderweise in Goethes „Auerbachs Keller“. Der krönt heute als Nobelgaststätte die neue Mädlerpassage des flüchtigen Herrn Jürgen Schneider, und die versammelten Edelfresser waren doch recht pikiert ob des Auftauchens von Mephisto und Konsorten. Ganz anders dann die Leipziger in den immer rappelvollen Vorstellungen der Blaumeiers – gerührt, aufgelöst, ungeheuer begeistert, und am Schluß will niemand nach Hause.

An die erste Blaue Karawane von Triest nach Bremen 1985 erinnerten sich einige alte Blankenburger, die auch damals dabei waren. Am Montag zog eine Gruppe der Karawane zur Psychiatrie Riebeckstraße, 180 Betten im Langzeitbereich, klopfte an die Pforte und diskutierte im Eßsaal der „Geschlossenen“ mit Insassen. Einige Riebecker wurden hinterher bei der Karawanserei gesichtet. Da lief Eike Besudens Film über die „Auflösung“ von Blankenburg, „Irre menschlich. Psychiatriereform, wie geht das?“ In der anschließenden Diskussion stellten Leipziger Psychiatriepatienten die entscheidende Frage: Wann wird die Langzeitpsychiatrie bei uns aufgelöst?

Heute bricht die Karawane ihre Zelte in Leipzig ab. Weil die Elbe Leipzig meidet, geht es erst per Achse nach Torgau. Dort kommt das Kamel ins Wasser, um den weiteren Weg nach Bremen anzutreten. Die Elbe hat übrigens wieder genug Wasser, um auch Personenschifffahrt für den Rest der Karawane zu ermöglichen.

Mittwoch, 17. August, an Bord der MS Punke, auf der Elbe, irgendwo zwischen Torgau und Wittenberg.

Torgau war auf den Besuch der Blauen Karawane vorbereitet: Es hatte im Kreisblatt gestanden. Selbst die tätowierten Jungs mit scharfen Rottweilern im Biergarten (“Torgisch Bier, das lob' ich mir“) hatten es gelesen. Ein Knirps am Marktplatz: „Da waren so ne Blätter an der Wand bei der Turnhalle.“ Eine junge Mutter wußte, worum es geht: „Irgendwas gegen Rassismus.“ Aber das sei in Torgau nicht das Thema. Was denn? „Jeder denkt nur an sich.“ Sie selber wurde kürzlich arbeitslos.

Strahlender Sonnenschein über dem hübschen, von einem Schloß dominierten Elbstädtchen. Das Kamel wird vom Anhänger geladen, die Karawane schminkt und verkleidet sich. Klein ist sie geworden, etwaq 60 nur noch, seit die Blaumeiers gestern früh abreisten nach Bremen. Sie treten ja immer gleich mit 70 Leuten auf. Trotzdem ist der Zug in Torgau noch imposant genug. „Blech“ voran setzt sich der Haufen von einem Parkplatz aus in Richtung Markt in Bewegung. Eco City, eine Percussionband aus England, die sich kurzfristig der Karawane angeschlossen hat, gibt mit dumpfem Getrommel den Marschrhytmus vor. Torgau freut sich ob des schönen Bildes, der Vertreter der Bürgermeisters überreicht einen Präsentkorb (Wurst, Trauben, Bananen).

Dann bezauberndes Straßentheater, die Leute bleiben stehen, obwohl ihnen das ganze Unternehemen ein Rätsel ist. „Im Prospekt stand Theaterstück“, verrät eine Frau ihrer Nachbarin angesichts eines weißen Stelzenmannes und einer ganzen Ansammlung von grotesken Körpern. „Es geht darum, daß Anstaltsleute nicht eingesperrt werden“, hat eine Dritte gehört, „Gedanken macht mer sich ja doch.“ Und kichert fröhlich.

Das Kamel ist in seine Einzelteile zerlegt worden, und diese haben die Bühne gebildet. Zum Schluß, aber da fliehen die Torgauer meist, wird zum Mittanzen aufgefordert und später zum Mittafeln: Zuckerwaffeln und belegte Brötchen.

Wo immer sich Medienleute treffen, das gleiche Thema: Worum geht's hier eigentlich? Die Geschichte kann man nur sehr schlecht vermitteln. Der ZDF-Mann hatte das Thema seiner Ausländerredaktion vorgeschlagen – und nun geht die Karawane nach Magdeburg, und es kommen keine Ausländer vor! Bei der ersten Blauen Karawane ging's gegen die Irrenhäuser – das hatte was. Aber das hier ist zu diffus, um wirklich verkäuflich zu sein. „Grenzen fallen...“ – das wollte Woodstock auch. Gefangen nimmt einen die Schönheit und Eingängigkeit der Aktionen. Und das Symbol des Ganzen, das Blaue Kamel, Symbol genug für eine komplette Bewegung. Abends Aktion auf dem Hof des Schlosses, in dem die kommunale Verwaltung (“Kübelmarkenverkauf“) untergebracht ist. „Mateng“ Pollkläsener treibt das Publikum, das leider überwiegend aus der Karawane selbst besteht, mit einer brüllenden Kettensäge auseinander. Theatre du Pain hat angefangen. Und begeistert mit seinem absurden Treiben auch die kleinsten Teilnehmer (vier Jahre). Torgauer Eltern werden es die nächsten Tage schwer haben. Schon während der Vorstellung begannen die Kinder, nach schlechtem Vorbild mit Eßbarem zu werfen.

In Torgau reichten sich einst die ruhmreiche Rote Armee und die Alliierten die Hände – auf einer Brücke, die jüngst gesprengt wurde. Die komische Strömung an der Stelle unterband den Schiffsverkehr für eine Weile. Doch wenn die Blaue Karawane kommt, ist alles wieder frei. Heute geht es mit der „Punke“, dem Werder-Shuttleboot, einem Kahn der weißen Flotte Magdeburg und dem Blauen Kamel, von zwei Außenbordern getrieben, in die Lutherstadt Wittenberg. Das tolle Wetter soll noch einen Tag halten.

Burkhard Straßmann