■ Deckert, die Deutschen und ihr Trauma
: Mehr Meinungsfreiheit wagen

Ruth Klüger, 62, ist Professorin für Germanistik in Kalifornien. Sie überlebte als Kind Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Christianstadt (Groß-Rosen). 1992 erschien ihre Autobiographie „weiter leben“, 1994 „Katastrophen; über deutsche Literatur“, beide im Wallstein Verlag Göttingen erschienen.

taz: Wenn deutsche Landgerichtsrichter ihre Urteile so begründen: „Es ist eine Tatsache, daß Deutschland heute noch rund 50 Jahre nach Kriegsende weitreichenden Ansprüchen politischer, moralischer und finanzieller Art aus der Judenverfolgung ausgesetzt ist.“ Was denken Sie da?

Ruth Klüger: Das macht mich wütend! Es sind keine weiterreichenden Ansprüche geltend gemacht worden. Man konnte sich überhaupt nur bis in die sechziger Jahre bewerben. Und viele taten das nicht, weil sie von diesem Gesindel nichts annehmen wollten. Heute geht es vielen nicht gut. Sie könnten das Geld gut gebrauchen. Die Ansprüche, die noch immer laufen, sind von jenen, die damals eine Rente erhielten und noch immer leben. Einige sind älter geworden, als man sich ausgerechnet hatte. Das liegt daran, daß nur die Stärksten die KZs überlebten.

Ist es nicht absurd, daß Sie auf dieses Zitat reagieren, indem Sie sich verteidigen und sagen: Stimmt nicht!

Schauen Sie, ich nehme die Deutschen ernst und ich will ihnen diesen Unsinn ausreden... Aber Sie haben recht. Reaktionen wie meine sind natürlich ein Kompliment an diejenigen, die diese Lügen verbreiten. Wenn solche Äußerungen von einem Richter kommen, der von Amts wegen respektiert wird, dann muß dies doch den Eindruck erwecken, daran sei etwas wahr. Ohne die Strafbarkeit solcher Äußerungen wäre es nicht so weit gekommen, und Leute wie Deckert hätten nur in ihrem kleinen Kreis herumgeschrien.

Sie denken also nicht, daß unter Strafe gestellte Äußerungen wie die „Auschwitz-Lüge“ das richtige Mittel gegen Rechts sind?

Ich finde es grundsätzlich problematisch, Meinungsäußerungen, die nicht direkt zu einer Straftat auffordern, unter Strafe zu stellen. Bestrafungen können drei mögliche Ziele haben: Rache, Besserung oder Abschreckung. Bessern wird sich Deckert nicht. Rache ist ein Prinzip, das in der Strafrechtstheorie zögerlich behandelt wird. Bleibt also die Frage, ob die Bestrafung Deckerts andere abhalten wird, ähnliches zu äußern. In Amerika werden Meinungsäußerungen nicht verfolgt. Ich halte diese Zurückhaltung für richtig. Mir scheint, daß die Meinungsfreiheit ein Grundstein der Demokratie ist.

Sind die Äußerungen nicht deshalb strafwürdig, weil es sich bei diesen Leuten um „geistige Brandstifter“ handelt?

Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen Äußerungen und Taten. Aber das ist das Argument gegen die Demokratie. Totalitäre Staaten verbieten Meinungsfreiheit mit dem Argument, daß man sich auf das Volk nicht verlassen könne, daß es manipulierbar sei. Roosevelt hatte eine andere Antwort: Die einzige Heilung für die Demokratie ist mehr Demokratie. Und obwohl ich selbst meine Zweifel an Mehrheitsurteilen habe, so glaube ich vielleicht gerade deshalb, daß auch die Minderheit geschützt werden muß.

Ist denn die deutsche Gesellschaft so liberal, so gut, daß sie sich Ihrer Meinung nach Meinungsfreiheit leisten kann?

Deckert hat vor 120 Menschen diesen Unsinn verzapft. Nur weil sein Gerede strafrechtlich verfolgt wird, beschäftigt sich derzeit die ganze Republik damit. Jetzt kann sich jeder in Deutschland darüber den Kopf zerbrechen, ob Juden wirklich in Deutschland vergast worden sind. Wobei interessanterweise das Beweismaterial überhaupt nicht erwähnt wird. So wird es sicher eine ganze Menge Leute geben, die sich fragen: Vielleicht hat er doch recht? Gerade durch die Strafbarkeit und das Verfahren gibt es eine Weiterverbreitung.

Man könnte aber auch die gegenteilige Meinung vertreten: Indem die gesamte Öffentlichkeit sich gegen das Urteil zur Wehr setzt, gibt es einen Lerneffekt.

Das wäre schön.

Wieso mißtrauen Sie dem?

Weil es in der menschlichen Natur liegt, daß man gerade das tut, was verboten ist. Man öffnet die Tür, die man auf keinen Fall öffnen darf. Das Tragen von Hakenkreuzen ist hier verboten. Ich sehe aber hier an jeder zweiten Mauer – in einer Universitätsstadt wie Göttingen – Hakenkreuze. Es ist ein obszönes Symbol, das man gerne hinzeichnet. Solange sexuelle Symbole verboten waren, sah man sie auch viel öfter. Jetzt findet man sie kaum noch auf dem Klo.

Glauben Sie, daß ein Rezept gegen den deutschen Rechtsradikalismus eine viel weiter gefaßte Meinungsfreiheit wäre?

Wahrscheinlich nicht. Es würde aber anderen Dingen helfen. Meiner eigenen Meinungsfreiheit zum Beispiel. Die sehe ich nämlich auch gefährdet, wenn gewisse Dinge nicht gesagt werden dürfen, nur weil sie moralisch verwerflich sind. Ich habe neulich mit einer Gruppe junger Rechtsradikaler gesprochen. Die waren vom Jugendgericht zu sozialen Aufgaben verdonnert worden. Eigentlich wollten sie Geschichten von mir übers KZ hören. Schließlich habe ich mich dazu breitschlagen lassen. Es war mir nicht wohl zumute. Ich hatte das Gefühl, daß man ihnen nichts beibringen kann. Zunächst sagten sie übrigens, daß sie über die ganze Vergangenheit nicht sprechen wollten, weil sie damit nichts zu tun hätten. Gut, sagte ich, sprechen wir also über die Gegenwart, was euch interessiert, welche Parteien ihr wählt. Sie sagten: Keine, die guten sind ja alle verboten. Einer sagte mir ins Gesicht: Die Juden sollte man alle wieder ins KZ sperren, dann bräuchte man keine Zahlungen zu leisten.

Wie reagierten Sie darauf?

Ich konnte nicht. Das ist eine derartige Provokation, daß man darauf nichts sagen kann. Aber wie Sie sehen, ist es mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen.

In Deutschland ist die offizielle Haltung eine judenfreundliche. Haben Sie den Eindruck, daß diese Haltung echt ist, oder ist es eine Folge von Tabuisierungen?

Rainer-Werner Fassbinder, der ja ein ungemein begabter Kerl war und ein paar antisemitische Filme gedreht hat, hat einmal gesagt: Als ich ein Kind war, da hat man mir gesagt, da ist ein Jud, zu dem mußt du besonders freundlich sein. Und das hätte ihn sehr geärgert. Er wollte das nicht und wollte enttabuisieren. Das kommt, glaube ich, oft vor, dieser Zwang, freundlich zu sein zu den Juden. Letztlich ist das nichts anderes als die Aufforderung zur Heuchelei. Auf den Deutschen lastet ein riesiges und echtes Trauma. Ich war naiv genug zu denken, nur die Juden seien traumatisiert. Traumata äußern sich auf die verschiedensten Arten. So, daß man ehrlich etwas wiedergutmachen will oder daß man sagt: Jetzt erst recht.

Haben Sie das Gefühl, daß die deutschen Offiziellen, wenn sie Freundlichkeiten über die Juden sagen, nichts anderes als kleine Fassbinders sind?

Bestimmt ist da was dran, auch wenn es nicht alle sind. Man hat hier in Deutschland schon das Gefühl, mit Glacéhandschuhen angefaßt zu werden.

Bewegen Sie sich in Deutschland in erster Linie als Jüdin?

Ich nicht, aber ich werde immer wieder darauf angesprochen.

In Ihrer Autobiographie ist die Rede davon, daß Sie Deutschen über Ihre persönliche Tragödie deshalb nichts erzählen, weil Sie befürchten, das Gegenüber würde sich mundtot gemacht fühlen.

Früher war das stärker. Man wollte die Erfahrungen der KZ- Häftlinge ausschalten. Die krasseste Art ist die der Rechtsradikalen, wenn sie behaupten, alles sei gelogen. Öfter kommt vor, daß man sagt, du warst doch viel zu klein, du kannst dich daran doch nicht mehr erinnern. Oder: Du machst dich wichtig, du willst nur im Mittelpunkt stehen und reden. Es wird durch das deutsche Trauma gestärkt. Die Leute haben das Gefühl, als wollte man ihnen persönliche Vorwürfe machen. Dabei wollte ich doch über menschliches Verhalten sprechen, Horizonte erweitern.

Ist es nicht auch die Angst, den anderen zu überfordern mit den eigenen Erfahrungen?

Damit bestätigen Sie das Dilemma, das ich meine. Aber auch das Gefühl der Überforderung kann sehr wohl ein Ressentiment gegen denjenigen einschließen, der überfordert. Das Absurde ist, daß die Menschen denken: Weil sie in Auschwitz war, kann man mit ihr darüber nicht reden. Aber mein Gefühl sagt: Gerade weil ich dort war, möchte ich gerne mit euch darüber sprechen! Interview: Julia Albrecht