Industrielles System in Höllenformat

Der Stoff, aus dem Berlin gemacht ist – eine taz-Reihe (Teil 3): Im Havelstädtchen Glindow bei Werder werden seit über hundert Jahren rotglühende Ziegel für die Hauptstadt gebrannt  ■ Von Rolf Lautenschläger

Es ist so heiß wie in der Hölle. Eben noch gingen wir im Schatten der kühlen Tonfabrik, in der vier lehmbeschmierte ukrainische Arbeiter Ziegel um Ziegel wie im Akkord „streichen“. Jetzt stehen wir in einer der 14 Kammern des Ringofens von Glindow, aus der gerade die fertig gebrannten Ziegel abtransportiert wurden. Die höhlenartige Zelle ist gerade einmal zwei Meter hoch und kaum mehr als zehn Quadratmeter groß. Die Wände scheinen noch zu glühen, die Luft ist schneidend heiß und trocken, daß keine Schweißperle überlebt. Hier und da liegt noch ein versengter Rest der 8.000-Steine-Last, die übereinandergestapelt von Ton zu Ziegel verbrannte.

Der tortenförmige Ringofen im Havelstädtchen Glindow bei Werder brennt heute noch den Baustoff Ziegel wie vor über hundert Jahren. Kammer für Kammer des kreisrunden Ofens wird mit Tonrohlingen gefüllt, erwärmt, gebrannt und wieder geleert in einem nie endenden Feuerkreislauf. Fünf Stunden lang versteinern sich bei tausend Grad Celsius die Tonquader, über die glühende Kohle durch Öffnungen des Deckengewölbes herunterfällt; so heiß, daß kaum noch Rauch dem hohen Schornstein entweicht.

Das industrielle Verfahren, das der Ziegeleifabrikant Eduard Hoffmann 1858 entwickelte, um die steinerne Nachfrage der boomenden Residenz zu befriedigen, ermöglicht eine ganzjährige, kontinuierliche und besonders sparsame Produktion. Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts konnte der Brennvorgang der Glindower Ringöfen gesteuert, kanalisiert und wirtschaftlicher geführt werden als in den offenen Feldöfen. Für Theodor Fontane, der die Glindower Öfen mit Akribie beschrieb, blieben sie die faszinierende höllische „Rotglut“ – ein industrielles System im Höllenformat. „Während man in Kammer eins eine für 12.000 Steine ausreichende Rotglut unterhielt, wurden die Nachbarsteine in Kammer zwei halb, in Kammer drei ein Drittel fertiggebrannt und in Kammer vier angeschmoocht.“ Durch das Vorbrennen werde Brennstoff gespart und eine bessere Qualität erreicht, berichtet Fontane. „So vollzieht sich ein Kreislauf (...) ohne Ende. Das Feuer rückt von Kammer zu Kammer, bis es herum ist, und beginnt von neuem. Der Ofen frißt alles.“

Zur Zeit Fontanes zeichneten die Glindower Skyline mächtige Schornsteine und neun Rundöfen, die jährlich 16 Millionen Ziegelsteine brannten. Das Rohmaterial Ton transportierten Pferdewagen von den nahen Gruben. Der Ton wurde gelagert, gereinigt und mit Wasser und Sand versetzt, um die schlammige Masse in Formen zu pressen und schließlich zu brennen. Arbeiteten in den großen Ziegeleien erst die Havelländer selbst als Tonstecher, Ziegelstreicher und Brenner, so schufteten in der Gründerzeit zusätzlich rund 500 Saisonarbeiter – die „Lipper“ aus Westfalen – in den Tonfabriken, die pro Person in einem 18-Stunden-Tag bis zwischen 3.000 und 5.000 Ziegel fertigen konnten.

Die Metropole Berlin fraß die Steine förmlich, die mit Kähnen und Transportschiffen die Havel herunter in die Stadt befördert wurden. „Berlin ist aus dem Kahn gebaut“, hieß es in Erinnerung an die Baustoffe und Lasten aus den Booten. Um die Jahrhundertwende bestand ein einfaches Mietshaus aus 600.000 Ziegeln, an großen Mietskasernen wurden 1,4 Millionen Steine verbaut. Für den 1880 eröffneten Anhalter Bahnhof benötigten die Baumeister gar 16 Millionen Ziegel. Kanäle, Kasernen, Kirchen, Krankenhäuser, Schulen und Brücken kamen aus dem „großen Ziegelofen der Residenz“ Glindow. Die Stadt wuchs in rot, gelb, grün und blau schimmerndem Backstein. „Ohne diesen Reichtum“, schrieb Fontane in den „Wanderungen“, „wäre das riesige Wachstum der Stadt nahezu eine Unmöglichkeit gewesen. Ein ganzes Berlin steckt in den Glindower Bergen.“

Vor dem höllischen Rundhaus mit seinem Schornstein lagern heute nur noch wenige der rot- und gelbgebrannten Ziegelsteine im 24er Backstein- oder dickeren Klostersteinformat, als Formsteine und Fußbodenplatten. Zum Niedergang Glindows trug bei, daß sich die grüngelben Tonvorkommen erschöpften und sich der Ringofen-Typ in den zwanziger und dreißiger Jahren überlebt hatte. Die Konkurrenz der fortschrittlicheren Tunnelöfen bereitete der Glindower Ziegelindustrie in den vierziger Jahren ein Ende. Dem einzig erhaltenen Ringofen machte die Bauindustrie der DDR zusätzlich das Leben schwer, verlangte der sozialistische „komplexe Wohnungsbau“ doch nach Betonplatten und nicht nach Ziegeln. 1964 wurde der Glindower Ofen gar auf das Brennen von Blumentöpfen umgestellt.

Seit dem Fall der Mauer brennt der Ringofen wieder Ziegelsteine zur Sanierung historischer Bauten und für die Denkmalpflege. Ziegel sind nur mehr Zierat für die der Bautradition verpflichteten Fassaden, und Backsteine bleiben teure Baustoffe. Das kleine Museum vor Ort, die Herstellung der Ziegel im originalen Handstrichverfahren und der Brand im Höllenofen beschwören dabei mit Nostalgie herauf, was in unserer Zeit längst von Stahl-, Beton- und Glaskonstruktionen abgelöst worden ist. Allein die anachronistische Arbeit der schuftenden Ukrainer stört das Schwelgen in der guten alten Zeit.