Allen Kindern der Wüste

Fortissimo für den iranischen Film. Ein Bericht vom Filmfestival in Locarno  ■ Von Th. Til Radevagen

Locarno blüht, subtropisch fast, am Alpensüdrand. Cinemaniacs können sich von morgens neun bis weit nach Mitternacht in Filmen baden statt im See vor der Türe oder in Tessiner Grottos gut zu essen. Über 150 Lang- und noch einmal fast soviele Kurzfilme in sieben Sektionen plus einem Markt in zehn Tagen wollen erstmal verdaut sein. Die Spitze der internationalen Jury, brisant besetzt mit Chantal Akerman und John Waters an ihrer Seite, hatte Preisleoparden an 21 Filme aus 14 Ländern zu vergeben.

Ein guter Auftakt, personell und stilistisch an die Nouvelle vague anknüpfend, war „Personne ne m'aime“ von Marion Vernoux, eine Geschichte um vier Frauen, darunter Bernadette Lafont, Bulle Ogier und Léaud als verfettetem Stiefvater der einen, Zweitmann der anderen. Hin und hergerissen zwischen Hysterie und Nymphomanie geht es dem Meer entgegen; mit einer Romanze ist nicht zu rechnen. „La vie sexuelle“ setzt die Linie mit einem autobiographischen Zug des Regisseurs Jan Bucquoy fort, der sich, wie sollte es anders sein, auf die Zeit zwischen 1950 und Post-68 konzentriert. Zwei Fortsetzungen des Kleinbürger- und Bohemelebens sind angedroht. Anne Marie Miville, Godards Gefährtin, zeigte „Lou n'a pas dit non“; Motive aus dem Briefwechsel Rilkes mit Lou Andreas-Salomon und ein erhitzter Pas de deux bilden den Kern des intellektuellen Films – so kamen aus Frankreich eben, wie es das Bilderbuch will, die wichtigsten Beiträge zum Thema Liebe in den Zeiten der true romances.

Ein weiterer, sicher länger im Gedächtnis bleibender Festivalschwerpunkt war die Lage im Iran: Die Jury hatte sich offenbar, ganz im Einklang mit der Festivalleitung, vorgenommen, dem bedrohten iranischen Film Schützenhilfe zu geben. Den Goldenen Leoparden erhielt „Khomreh“ (Der Krug) von Ebrahim Foruzeh, einem Schüler von Abbas Kiarostami. Gewidmet „allen Kindern der Wüste“, beschreibt er die Lage eines gottverlassenen Dorfes, in dem einzig eine marode Stromleitung den Kontakt zur Gegenwart bildet. Ein junger Lehrer unterrichtet fünf Klassen wilder Kinder. Der große Wassertonkrug, aus dem in den Pausen getrunken wird, hat eines Tages einen Riß – und ein Riß geht auch mitten durch die zwischen Mittelalter und Vormoderne hin und hergerissene Dorfbevölkerung.

Auch der Silberne Leopard ging an einen iranischen Film, und das Publikum war sichtlich einverstanden: Kianush Ayyari variierte den neorealistischen Klassiker „Fahrraddiebe“. „Abadani-Ha“ spielt vor dem Hintergrund des iranisch- irakischen Krieges. Dem Taxifahrer aus Abadan wird in Teheran das alte Auto, Mittel seines Lebenserwerbs, gestohlen. Verzweifelt sucht er es mit seinem kleinen Sohn in den Slums und Autofriedhöfen. Die dem Neorealismus verpflichtete Filmarbeit an Abbas Kiarostamis Institute for Intellectual Developement of Children and Young Adults wird durch diese Auszeichnung dringend benötigte Unterstützung erhalten. Von den anwesenden Iranern war übrigens auch auf Nachfrage hin niemand in seiner Loyalität zum fundamentalistischen Regime zu erschüttern. Ganz eindeutig ist auch die Position des Instituts nicht; unter den von ihm präsentierten Festivalbeiträgen war auch ein explizit fundamentalistischer, von der Armee produzierter, der künstlerisch völlig uninteressant war.

Es scheint, als sei das politische Kino aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. „Viva Castro“ von Boris Frumin schildert eine Provinzstadt in den Sechzigern, die den kubanischen Revolutionär erwartet. „Le livre de cristal“ von Patricia Plattner spielt in Sri Lanka. Die Unesco läßt eine buddhistische Kultstätte ausgraben, einer der Archäologen trifft auf eine Ärztin aus der Gegend; vor beide Episoden schiebt sich der Tamilenkonflikt. Die drei Szenaristen wollten eine kinoträchtige Geschichte zusammenfügen, für ein großes Publikum und gleichzeitig Inhalte wie Buddhismus und Politik aufgreifen. Ergebnis: Der Film steht genau zwischen den Polen kommerzieller Genrespannung und themenorientierter Zielgruppengeschichte.

Eine andere Form des politischen Kinos, möglicherweise das Westküsten-Pendant zu Spike Lee, mit bestem Gruß ans diskreditierte Los Angeles Police Department, war Charles Burnett mit „The Glass Shield“. Burnett wurde hierzulande vor allem durch den Voodoo-haltigen „To Sleep with Anger“ bekannt. Basierend auf einer wahren Geschichte wurde der Film teilfinanziert von der McArthur-Foundation und mit der französischen Firma Ciby 2000 produziert. Ein junger Naivling, John Johnson, kommt als erster schwarzer Streifenpolizist in ein Revier von L.A. County. Er wollte dorthin, weil er zuviele Comics gelesen hatte. Er steht gegen eine Mannschaft hartgesotten rassistischer Kollegen mit Dreck am Stecken, nur von einer jungen jüdischen Kollegin unterstützt. Stück für Stück kommt man sich dennoch näher, bis er sich schließlich von den weißen Cops überreden läßt, gegen einen brother (Ice Cube) falsches Zeugnis abzulegen. Ein aktueller und rasanter Polizei- und Gerichtssaalreißer gegen Rassismus und Korruption in der Polizei.

Wenn der Wettbewerb um die Leoparden (Gold, Silber) das Herz des Locarno-Festivals ist, so ist die allabendlich von 5.000 bis 7.000 Menschen gefüllte Piazza Grande die Lounge, sagte der seit 1992 amtierende Festivaldirektor Marco Müller. Marco Müller hat sich im dritten Jahr freigeschwommen, er wirkt entspannter, lacht öfter und gibt aus dem Stand luzide Kurzeinführungen, gewagte Thesen zur Filmentwicklung und Bekenntnisse eines eigenen erratischen Geschmacks. Vor allem hat er eine Dramaturgie in der Programmierung entwickelt, die ein feines Gespür für Querbeziehungen ganz unterschiedlicher Filme verrät.

Mit dem langjährigen Festivalspräsidenten, dem Zeitungsverleger Raimondo Rezzonico, der sich ums Finanzielle kümmert, scheint er ein so gutes Gespann zu bilden wie sein Vorgänger David Streiff, nun höchster Kulturbeamter des Bundes, der das Festival aus künstlerischen Krisen so hochbrachte, daß die beiden selbstbewußt davon träumen, in Locarno bald die unbestrittene Nummer vier in Europa neben Cannes, Venedig und Berlin zu sein – ein Anspruch, der von der Programmqualität auf jeden Fall, vom Organisationsgetriebe her nicht unbedingt berechtigt ist.

Ein angenehm gemischtes Publikum – Filmleute (über 3.000 Akkreditierte) und Gelegenheitskinogänger, Einheimische und Urlauber – sieht außer Konkurrenz Voraufführungen großer Kinoereignisse des Herbstes und Filme von Jurymitgliedern sowie Festivalsiegern, wie den Cannes-Preisträger „Pulp Fiction“ von Quentin Tarantino, oder Jan De Bonts Actionthriller „Speed“. Wer meinte, dieser sei an Rasanz nicht mehr zu überbieten, wurde von Kirk Wongs Hongkong-Polizei- Kungfu-Oper mit Jackie Chan, „Zhong da Zu“, eines Besseren belehrt. Einen weisen Film wie „Le Franc“ des Senegalesen Djibril Diop Mambéty mit Aurelio Grimaldis „Le Buttane“ über vier sizilianische Huren und ihre Kundschaft zu koppeln, ist schon gewagt – und ruft seltsamerweise keinen Widerspruch oder Protest hervor. Eine Josephslegende wie „Al Mohager“ des Ägypters Youssef Chahine mit Piccoli als biblischem Patriarchen als Eröffnungsfilm zu zeigen, das wagt nur Locarno.