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■ Die „Wochenpost“ zur „Bevölkerungsexplosion“Wem die Bombe tickt

Vor fast vierhundert Jahren schrieb der englische Lyriker John Donne ein Gedicht, dem die Zeile „Frag nicht, wem die Stunde schlägt, sie schlägt auch Dir“ entstammt. Ginge es nach der Meinung vieler Wissenschaftler und Journalisten, die sich mit der „Bevölkerungsexplosion“ auf der Erde beschäftigen, so müßte diese Zeile heute eigentlich lauten: „Frag nicht, wie lang die Bombe tickt, sie wird auch Dich zerreißen.“ Stets noch hat die Katastrophenmetaphorik auf dem Gebiet der Demographie, die „tickende Bombe“ angesichts steigender Geburtenziffern, die drohende „Sturzflut“ der Elendsmigration aus übervölkerten Gebieten bei uns nur einem Zweck und einem Ziel gedient: der Angstproduktion und – ihr folgend – der Abschottung. Denn die Bombe kann entschärft, der Flut ein Damm entgegengesetzt werden. Man muß nur den Empfehlungen der Kapitäne folgen, die unser angeblich so übervolles Boot kommandieren.

Selbst menschenfreundliche und rationale Diskurse zum Thema der Weltbevölkerung werden um ihre Wirkung gebracht, wenn sie dieser wuchernden Metaphorik erliegen. Und was Metaphern nicht zuwege bringen, erledigt der emotionale Sog der Fotografien. Ein Beispiel für diesen destruktiven Prozeß bietet die letzte Ausgabe der Berliner Wochenpost, einem Blatt mit kritisch-aufklärerischem Anspruch. Unter der Titelschlagzeile „Zeitbombe Mensch“ wird inmitten eines azurblauen Himmels ein Globus abgebildet, der vollständig mit Kindergesichtern ausgefüllt ist. Muß man noch erwähnen, daß der Großteil dieser lächelnden Kinder asiatische Gesichtszüge trägt? In dem „extra“, das dann der „Bevölkerungsexplosion“ gewidmet ist, und den Titel „die Uhr tickt“ trägt, findet sich ein Großfoto, das ruandische Arbeiter im Jahr 1991 zeigt. Die auf ihre Entlohnung Wartenden sind so hinter einem Fensterkreuz abgebildet, daß die einzig mögliche Assoziation die eines Käfigs ist, in dem das Rudel (noch!) gefangengehalten wird. Das Massaker in Ruanda als Resultat einer Aggression, die ihre Schubkraft der Überbevölkerung des Landes verdankt! Und die Wochenpost hat auch noch die Stirn, mit dem Opfer ihrer Manipulation, dem brasilianischen Fotografen Sebastião Salgada, als „berühmtestem Fotografen der engagierten Sozialreportage“ zu prahlen.

Da mag Nafis Sadik, Direktorin des Bevölkerungsfonds der UNO, im Gespräch mit dem Redakteur des „extra“ noch so konstruktive, finanzierbare, die Rechte der Frauen einklagende Vorschläge machen; da mag dieser Redakteur selbst noch so erwägenswerte Gründe für den „Paradigmenwechsel“ gegenüber dem Problem der Familienplanung in der Dritten Welt anführen – er führt einen Windmühlenkampf gegen die subkutane Wucht der Metaphern und Bilder. Und es ist schließlich diese Botschaft, die sich am Zeitungskiosk auszahlen soll. Christian Semler

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