Bewegungspartner Pferd

■ Hippotherapie - eine Behandlungsmethode mit erstaunlichen Folgen

Jens Reimann (Name geändert) ist 27 Jahre und querschnittgelähmt. Seit seinem Autounfall vor einem halben Jahr sitzt Reimann im Rollstuhl; nur Arme, Schultern und Hals kann er noch bewegen. Der 27jährige klagte über Schmerzen in den - gefühllosen - Beinen, spastische Verkrümmungen, die typischen Begleiterscheinungen der Querschnittlähmung, machten dem jungen Mann zu schaffen.

Inzwischen ist vieles anders. Zwar sitzt Reimann noch immer im Rollstuhl, doch die Spasmen sind verschwunden: Der junge Hamburger wurde im Rahmen seiner Rehabilitationsbehandlung im Querschnittsgelähmten-Zentrum des Boberger Unfallkrankenhauses aufs Pferd gesetzt. Einmal in der Woche werden er und sechs LeidensgenossInnen nach Öjendorf gefahren. Dort, im „Zentrum für therapeutisches Reiten in Hamburg“, sitzt Jens Reimann auf blankem Pferderücken und reitet, unterstützt von zwei TherapeutInnen, 20 Minuten im „Schritt“-Tempo durch die behindertengerecht konzipierte Halle. Hippotherapie nennt sich das heilgymnastische Verfahren, das das Pferd als Bewegungspartner einsetzt. Weil der Bewegungsrhythmus der Gangart „Schritt“ dem des gehenden Menschen entspricht, werden durch die Wärme und die Rotationsbewegungen des Pferderückens die Muskeln der PatientInnen, deren Bewegungsfähigkeit durch Krankheit oder Lähmung eingeschränkt ist, stimuliert.

„Sehr wichtig“ ist diese Therapieform für den Chefarzt des Boberger Querschnittgelähmten-ZentrumsDr. Gerhard Exner. Zusammen mit drei KrankengymnastInnen beobachtete er über anderthalb Jahre 67 PatientInnen, die mit Hippotherapie behandelt wurden, und konnte Beeindruckendes berichten: So gingen die Spasmen, zum Teil „mit erstaunlicher Wirkungsdauer“, zurück, es trat eine Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit und der Muskeldehnfähigkeit auf, und die PatientInnen waren wieder in der Lage, ihren Gleichgewichtssinn zu kontrollieren. Und Komplikationen? „Wir haben keine gesehen“, bescheidet Exner.

Um so bedauerlicher ist es für den Chefarzt, daß diese Behandlungsmethode noch immer keinen Eingang in den Regelkatalog der Krankenkassen gefunden hat. Was bedeutet, daß Betroffene, die in den Genuß der Hippotherapie kommen wollen, nicht automatisch Anspruch auf Kostenübernahme haben, wie Ulrike Zeising, Pressesprecherin der AOK Hamburg, bestätigt. Die muß für „Außenseitermethoden wie diese“, also Behandlungsformen, die zwar schon zum Erfolg geführt haben, aber in den Heil- und Hilfsmittelrichtlinien der Kassen nicht auftauchen, im Einzelfall entschieden werden, erklärt sie. Immerhin handele es sich um eine „sehr aufwendige und teure Therapie“, da sei schon zu prüfen, ob sich mit anderen, billigeren Methoden nicht ein ähnlicher Heileffekt erzielen lasse. Allerdings, so räumt Frau Zeising ein, sei ihr bei der AOK Hamburg kein „strittiger Fall“ bekannt, die Anliegen der Antragssteller seien also wohl zur Zufriedenheit geregelt worden.

Die Erfahrungen von Gerhard Exner sehen anders aus. „Sehr selten“, so klagt er, werde die Hippotherapie für Querschnittgelähmte bewilligt, und immer nur mit erheblichem bürokratischen Aufwand. Dabei müßte doch die verlängerte Latenzzeit, in der der Patient von seinen Spasmen befreit sei (bis zu zwei Tage hintereinander wurden beobachtet), im Gegenteil ein Argument sein, die Therapie nicht nur ein-, sondern mehrmals wöchentlich anzuwenden.

Hippotherapie, die auch zum Beispiel zur Behandlung von Multiple-Sklerose-PatientInnen eingesetzt wird, ist nur eine Form des therapeutischen Reitens, die im Öjendorfer Zentrum angeboten wird. Heilpädagogisches Voltigieren wird häufig bei verhaltensauffälligen, lern- und geistigbehinderten Kindern und Jugendlichen sowie Autisten eingesetzt. Körperbehinderte, oft Arm- und Beinamputierte, betreiben das Reiten als Behindertensport.

60 bis 70 PatientInnen im Alter zwischen vier und 50 Jahren werden wöchentlich von Heidi Wallert, der Betreiberin des therapeutischen Reitzentrums, betreut. Die ausgebildete Motopädin mit 17jähriger Berufserfahrung wird dabei von sechs HippotherapeutInnen unterstützt - und ebensovielen Pferden, die nach speziellen Kriterien ausgewählt werden. Die Tiere müssen vor allem ein ruhiges Naturell aufweisen, einen ausgeprägten Schritt und das richtige Alter (zwischen acht und zehn Jahren). Die Gewöhnung an die Rollstühle, Krücken und das ruhige Abwarten, bis die PatientInnen von der Rampe auf ihren Rücken gehoben werden ist dann Trainingssache. bit

Zentrum für therapeutisches Reiten in Hamburg, Hegenredder 34, 22117 HH, Tel.: 040/7 12 05 56