Wand und Boden
: Unaufdringliche technische Wunder

■ Kunst in Berlin jetzt: Menschenbildnis, Keetman, Gundermann

Daß im Augenblick der Fotografie das ganze Leben als Erinnerung durchschimmern kann, brachte Prousts Marcel schier zur Verzweiflung, als er das Bildnis seiner Großmutter sah. Vielleicht hat Holger Daske den Jungen gar nicht mal gekannt, den er da irgendwo auf einer Landstraße im Bild festgehalten hat. Trotzdem möchte man meinen, daß sich auf dem Portrait-Foto von diesem gewitzt in die Kamera lächelnden Knirps im dunklen Anorak alle Kindheit widerspiegelt. Der entlegene Ort, das matte Licht über der kurze Zeit erst vom Schnee befreiten Landschaft im Hintergrund, das alles scheint sich in Haltung und Mimik voller Zuversicht zu einer Geschichte zusammenzufügen. Gerade in der freundlich unaufdringlichen Machart des Bildes deutet sich eine Nähe an, die nicht nach dem Wahren, Schönen, Guten sucht. Daske hat bloß den Moment wahrgenommen und aufmerksam den Auslöser gedrückt. Weiter will er gar nichts erzählen. Nicht alle Fotos im Wettbewerb des Jugend- und Kulturzentrums Wasserturm zum Thema „Menschenbildnis – Portrait“ sind im genügsamen Verlaß aufs Medium geglückt. Die meisten haben den Menschen im Motiv gesucht. Die Studien Katharina Vogels von Heimzöglingen, mit denen sie den 1. Preis gewann, gehen auf die unverschuldete Ausgrenzung der Kinder ein und wollen sich dennoch sozial-investigativ an der Situation abarbeiten. Man sieht den Blick hinter der Kamera, der die Jungen trotzig reagieren läßt. Susanne Schleyers grau schillerndes Portrait von Kiev Stingl bestätigt dessen verlebtes Künstler- Image und kehrt noch ein wenig mehr die charakterstarken Augenränder hervor. Aron H. Neubert muß die indischen Eunuchenbilder ethnografisch betexten, um sein durchaus erotisches Interesse für die seltsam irr vor der Kamera träumenden Nicht- mehr-Männer zu erklären: „Sie leben, wie Frauen gekleidet, von der Prostitution, oder werden als Glücksbringer verehrt.“ Jens Neumann fotografiert Szenetypen durch beruhigend gelbe Zusatzfilter, Hans-Joachim Pfeiffer macht ernste Frauenportraits in hart kontrastierendem Schwarzweiß. Technisch perfekt, ist das Vertrauen ins Medium bei allen Bildern groß, wenn auch etwas zu offensichtlich.

Bis 30.9., Mi-So 14-22 Uhr, Kopischstraße 7, Kreuzberg.

Bevor Routine ins Genre kleinteilig inszenierter Fotografien zur Industrielandschaft kam, waren die Bilder im Makro-Bereich selbst von Wassertropfen spektakulär. Bloßfeldts Blütenstengel-Architektur gilt noch heute als technisches Wunder der Übertragung von kaum mehr Sichtbarem, eine Art Foto-Pantheismus. In den fünfziger Jahren wurde daraus Manierismus, das optisch Machbare zum Maß für die Wahrnehmung. Kein Lehrbuch ohne abstrakte Sträucher- oder Schrottplatzwüsten. Peter Keetman, zunächst Anhänger der „Neuen Sachlichkeit“ eines Albert Renger-Patzsch und nach dem Krieg Schüler von Adolf Lazi, mußte sich neue Aufgaben suchen, und die Lockungen der Werbefotografie waren verführerisch. Ganz hat er sich nicht auf Dienstleistung eingelassen: Seine Darstellungen von aufgestapelten Kotflügeln und in Zweierreihen abgestellten fabrikneuen Volkswagen parodieren die Ordnung der Massengüter, bei denen der Blick aufs Detail vergangene Naturimpressionen mit Objektliebe vermengt. Die Bildkomposition, der strenge Konstruktivismus, ist auch eine hilflose Frage an die Segnungen der Moderne: Wie sollen die zerstückelten Dinge wieder zusammengesetzt werden? Der Fotograf Keetman zieht sich hinter Effekte zurück. Die Anatomie von ausgestanzten VW-Variant-Dächern und den Zahn- oder Lokomotivrädern wiederholt, was er bei anderen Aufnahmen der Natur abgeguckt hat: gefrorene Luftbläschen unter halb vereistem Schilfteich, „Schnee-Inseln“ auf einer Wiese, die endlos belichtete Scheinwerferspur in winterlich dunkler Landschaft. Keetman verweist mit seinen Bildern auf das Serienhafte aller Erscheinungen. Die Gegenstände sind nur Form und als solche unendlich multiplizierbar. In der Menge erst entwickeln die Fotos ihren eigenen Stil, der damals unter dem Begriff „Subjektive Fotografie“ subsumiert wurde. Sachlich nicht mehr ganz so neu, merkt man dem Netzwerk en miniature den Wunsch nach einem Brückenschlag zur zeitgleichen Malerei des Informel an.

„ – fotoform – “, bis 31. 8. Mo-Fr 8-21, Sa/So 10-18 Uhr, PPS-Galerie, Hirtenstraße 19, am Alexanderplatz, Mitte.

Problematisch wird das Zusammenspiel von Tradition und Moderne, wenn man sich allein aufs Gefühl für das Material bezieht. Elke Gundermann sieht ihre Objektbilder mit Steinen als „Versuch, Gerölle assoziativ zu erfahren, ihre strukturelle Vorgabe teils fiktiv, teils empirisch fortzusetzen. So entstehen auf den ersten Blick hin zwar abstrakt anmutende Bilder, doch wie der verarbeitete Stein unmittelbar zeigt, handelt es sich um ganz konkrete, fraktale Landschaften aus einer nur ungewohnten Perspektive.“ Soweit das Theorie-sampling im tiefen Tal der Diskurse. Am Ende steht man in der Empfangshalle der Berliner Zeitung vor allem einer grau in grau gemalten Bildmasse gegenüber, in der Gundermann die zufällige Gesteinsstruktur auf der Leinwand zu abstrakten Figuren verlängert. Strichmuster werden zu römischen Zahlenketten addiert, ein fossiles Kraklee zum Strudel erweitert. Schon Winckelmann sah in den Kratzspuren der Hühner die allegorische Herkunft der chinesischen Schrift. Doch die Künstlerin interpretiert wenig und schöpft viel aus der Intuition. Ein penisförmiger Stein als Sinnbild für männliche Bedrohung muß in Kombination mit zehn verpackten Rasierklingen für eine Kritik am Patriarchat herhalten, die in der Form den bösen Inhalt sieht, aber den Akt der Bezeichnung ausklammert. Diese merkwürdig selbstgewisse Unmittelbarkeit, die vor lauter Signifikaten den Signifikanten vergißt, führt dann dazu, daß eine Installation mit vier Polyglott-Reiseführern für Jugoslawien neben vier grau getünchten Kreuzen den Titel „Die verlorengegangene Urlaubskolonie“ trägt. Ein zweifelhafter Zusammenhang, der den Gegenstand weniger darstellt als metaphorisch zurichtet.

Stein-Welten, bis 19.9., Mo-Fr 9-18 Uhr, Karl-Liebknecht-Straße 29, Mitte. Harald Fricke