Nichts für Freunde der Zellhaufen-Theorie

Der US-amerikanische Rechtsphilosoph und luzide Rezensent der „New York Review of Books“, Ronald Dworkin, hat ein konstruktives Buch zum Thema Abtreibung und Euthanasie veröffentlicht: Die Grenzen des Lebens  ■ Von Gertrud Grünkorn

Die Abtreibungskontroverse, die in Deutschland durch die Wiedervereinigung neu entbrannte und die sich in den USA zu einem regelrechten Glaubenskrieg entwickelt hat (siehe taz vom 18.8., Seite 11: Gewalt gegen Abtreibungsärzte in den USA), beruht auf einer intellektuellen Verwirrung. Dies behauptet kühn der amerikanische Rechtsphilosoph Ronald Dworkin in seinem neuesten Buch, das jetzt auf deutsch erschienen ist. Denn bisher wurde die Abtreibungsdebatte fälschlich als ein erbitterter Streit geführt, ob der Fötus vom Augenblick der Empfängnis an eine Person mit Rechten und Interessen ist, die durch Abtreibung verletzt werden.

Aber die moralische Dimension der Abtreibungskontroverse, so Dworkin, beruht eigentlich auf einer anderen Vorstellung, nämlich der der „Heiligkeit des Lebens“. Nein, diese Neubeschreibung drückt alles andere als eine konservative Haltung zur Abtreibung aus! Der Autor schlägt vielmehr – gerade indem er die Dimension „Wert des Lebens“ ernst nimmt – eine verfassungsrechtlich verankerte liberale Lösung vor, die keine Gruppe herabwürdigen soll und die jeder, vor allem jede ohne Einbuße an Selbstachtung akzeptieren könne. Aber die philosophische und juristische Diskussion ist für Dworkin noch nicht alles. Mit streckenweise großem rhetorischem Aufwand möchte er auf die öffentliche Meinung im Sinne seiner Schlichtung politisch Einfluß nehmen. Das Ergebnis ist ein äußerst anregendes und ermutigendes Buch.

Und so sieht der bisherige Streit aus: AbtreibungsgegnerInnen betrachten den Fötus bereits vom Augenblick der Empfängnis an als ein moralisches Subjekt mit einem Recht auf Leben. Schwangerschaftsabbruch sei Mord. Allerdings erkennen sie einige Ausnahmen an. Eine Abtreibung ist in ihren Augen zulässig, wenn die Gesundheit der Mutter auf dem Spiel steht oder bei Schwangerschaft infolge von Vergewaltigung. Diese Auffassung ist widersprüchlich, argumentiert Dworkin, ähnlich wie andere vor ihm: Denn man kann nicht einerseits darauf beharren, ein Fötus habe ein Recht auf Leben, selbst dann, wenn es den Lebenssinn der schwangeren Frau zerstört, und andererseits dem Fötus dieses Recht absprechen, wenn die Schwangerschaft Folge eines Sexualverbrechens ist. Bei den AbtreibungsbefürworterInnen, so Dworkin weiter, gibt es ein ähnliches Problem: Auch wenn sie es absolut absurd finden, einem Fötus eigene Rechte und Interessen zuzusprechen, folgt daraus für die meisten nicht, Abtreibung sei dasselbe wie eine Mandeloperation. Warum diese Unstimmigkeiten? Dworkins Antwort lautet: Nicht die Vorstellung, ob ein Fötus eine Person sei oder nicht, trifft den Kern der Abtreibungsdebatte. Für Dworkin steht eigentlich fest, daß ein Fötus keine Person ist, weil er keine eigenen Interessen und deshalb auch kein Recht auf Leben hat. Nichtsdestotrotz ist die Debatte für ihn keinesfalls entschieden, weil der Streitpunkt eben woanders liegt:

Gemeinsam ist nämlich den KontrahentInnen der intuitive Gedanke, daß das menschliche Leben einen Wert an sich habe – unabhängig davon, ob jemand eine Person mit Interessen ist oder nicht. Halten wir nicht einen vorzeitigen Tod, etwa bei einer schweren Krankheit oder Selbstmord, an sich für bedauerlich, obwohl er vielleicht im Interesse des oder der Betroffenen war? Die schwerwiegenden Meinungsverschiedenheiten über die Abtreibung sind nach Dworkin dann letztlich Ausdruck tiefgreifender Differenzen über das, was wir jeweils unter der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens verstehen. So glauben einige, daß der Respekt vor dem menschlichen Leben eine Abtreibung unter keinen Umständen erlaube; andere meinen aus genau demselben Grund, eine Frau dürfe abtreiben, wenn der Wert ihres eigenen Lebens gefährdet ist oder wenn die Lebensaussichten des Kindes aufgrund von starken Behinderungen zu trostlos sind.

Darüber hinaus kann Dworkin mit seiner Darlegung der Abtreibungsdebatte – im Gegensatz zur herkömmlichen Auffassung – der besonderen, sich entwickelnden Beziehung zwischen der schwangeren Frau und dem Fötus Rechnung tragen. Er kann erklären, warum wir ein geringeres Problem haben, einen Fötus in den ersten Schwangerschaftswochen abzutreiben als in den letzten. Denn in einen achtmonatigen Fötus ist weit mehr natürliches und menschliches Potential in das jeweilige Leben investiert worden, und an diesem „Investment“ hängt der Wert des Lebens.

Allerdings schließt Dworkins Neubeschreibung diejenigen aus, die auf der einen Seite darauf bestehen, der Fötus sei von Anfang an eine vollständige Rechtsperson, und diejenigen, die auf der anderen Seite durchaus der Meinung sind, der Fötus sei ein bloßer Zellhaufen und eine Abtreibung überhaupt kein moralisches Problem. So stützt sich Dworkins Argumentation sehr stark auf die Intuition, die er uns allen unterstellt, daß eine Abtreibung von einer Mandeloperation moralisch unterschieden ist. Wer diese Intuition nicht teilt, kann das Buch gleich aus der Hand legen.

Reformulieren wir jedoch mit Dworkin den moralischen Status des Fötus und machen aus dem „Recht auf Leben“ den „unverletzlichen Wert des Lebens“ – was bringt uns das? Sehr viel, denn aus diesem Unterschied ergeben sich wichtige verfassungsrechtliche und politisch-moralische Konsequenzen. Der Staat muß für die Rechte einer Person einstehen; Werte dagegen dürfen nach liberaler Auffassung, wie sie in die US-amerikanische und bundesdeutsche Verfassung eingegangen ist, nur dann geschützt werden, wenn sie die Freiheitsrechte der BürgerInnen nicht beschneiden. Das bedeutet nichts anderes als: Die Abtreibungsdebatte wird eine Ebene tiefer gehängt, ein liberaler Staat darf sich bei kontroversen Werten nicht einmischen. So ergibt sich folgende neue und besondere Konsequenz aus Dworkins Ansatz: Frauen bekommen ein in der Verfassung verankertes Recht auf „reproduktive Autonomie“ zugesprochen, sie dürfen frei im Bereich der Geburtenkontrolle entscheiden, weil der Wert „Heiligkeit des Lebens“ strittig und quasireligiös ist.

Sich über den Sinn des Lebens Gedanken zu machen hat etwas Religiöses. Denn die Vorstellung, daß das menschliche Leben unabhängig von der Person einen Wert besitzt, ist nach Dworkin ein quasireligiöser Glaube, selbst wenn er von Menschen vertreten wird, die nicht an Gott glauben. Es gehört zu den Grundlagen der traditionellen Religionen, daß sie versuchen, die existentiellen Fragen zu beantworten, indem sie individuelles Leben gerade mit überpersönlichen Werten verknüpfen. Auf diese Weise gelingt Dworkin der verfassungsrechtliche Clou, das Recht auf Abtreibung von der Religionsfreiheit abzuleiten, in die sich der Staat auf keinen Fall einzumischen hat. Und dies weist weit über die amerikanischen Grenzen hinaus und in die politische Kultur anderer westlicher Staaten hinein – bis nach Deutschland! Ein Haken aber bleibt: Was ist mit denen, die nicht an überpersönliche, objektive Werte glauben, sondern meinen, daß etwas nur dann wertvoll ist, wenn es eine Person für wertvoll hält? Oder mit denen, die an objektive Werte zwar glauben, aber der Ansicht sind, ein Staat müsse gerade diese objektiven Werte schützen? Sie werden sich Dworkins Lösung nicht anschließen.

Der Staat darf also den BürgerInnen nicht konkret vorschreiben, wie sie über den Wert des Lebens zu denken und zu entscheiden haben, sofern es nicht Personen mit Lebensrechten betrifft. Er müsse aber nach Dworkin, nun die andere Seite der Medaille, allgemein ein „moralisches“ Klima fördern, in dem man menschliches Leben achtet, Entscheidungen über Leben und Tod ernst nimmt. Doch muß eingewendet werden, ist hier hinsichtlich Abtreibung politische Gefahr in Verzug. Was heißt das denn im Klartext? Die Verweigerung staatlicher finanzieller Unterstützung? Zwangsberatung? Die Einhaltung einer Wartezeit vor der Abtreibung oder die Unterrichtungspflicht des Ehemannes?

Zwar fallen laut Dworkin die genannten Punkte unter den amerikanischen Passus, daß es verfassungswidrig sei, der abtreibungswilligen Frau eine „unangemessene Belastung“ aufzuerlegen, indem ihrer Entscheidung Hindernisse in den Weg gelegt werden, aber weit weniger liberale Interpretationen sind hier allzu leicht vorstellbar. Der Grad zwischen der reinen Idee, BürgerInnen in der Abtreibungsfrage keine bestimmte Sicht aufzuzwingen, und der anderen Idee, sie gleichzeitig zu ermuntern, diese Frage ernst zu nehmen, ist gefährlich allemal.

Unsere persönliche Einstellung zur „Heiligkeit des Lebens“ betrifft alles, was mit Leben und Tod zu tun hat, auch die moralischen Probleme an der anderen Grenze des Lebens, der Euthanasie. Es geht um die Frage, wann und wie wir würdig sterben wollen. In den Situationen, in denen wir über unseren eigenen Tod oder den eines anderen Menschen entscheiden müssen, kommen nach Dworkin das Selbstbestimmungsrecht, das Wohl des Menschen und eben der Wert des Lebens an sich zum Tragen. Da es bei der Frage nach dem Sterben im Unterschied zur Abtreibung um das Leben einer Rechtsperson geht, greift erst einmal das Selbstbestimmungsrecht der betreffenden Person. Es gibt Fälle, bei denen wir es für richtig halten, dieses Selbstbestimmungsrecht aus Fürsorge einzuschränken. Beispielsweise versuchen wir alles, einen Menschen, der in einer depressiven Phase steckt, daran zu hindern, Selbstmord zu verüben, weil wir meinen, dies sei zu seinem Wohl und er erkenne seine eigenen Interessen nicht.

Was ist aber bei einem Menschen, der im letzten Stadium an unheilbaren, unerträglichen Schmerzen leidet und sterben möchte? Der Tod wäre sein Wille und sein Wohl. Warum meinen trotzdem viele, daß hier Euthanasie auf keinen Fall zuzulassen sei? Es ist eben, so Dworkin, der Glaube an den unverletzlichen Wert des Lebens. Dieser ermöglicht allerdings, wie wir nun wissen, verschiedene Interpretationen: Für einige kann er bedeuten, daß ein Leben unter allen Umständen erhalten werden müsse, für andere, daß man sterben darf, weil es grundsätzlich ihrer Lebensauffassung widerspreche, an Maschinen angeschlossen zu sein und am Rand des Todes dahinzudämmern. Auch bei der Euthanasie darf nach Dworkin der liberale Staat seinen BürgerInnen keine allgemeinverbindliche Meinung aufzwingen, jede/r müsse die Freiheit haben, die zentralen Entscheidungen hinsichtlich des eigenen Lebens selbst zu treffen.

Nach Dworkin gilt es also, bei der Euthanasie neben dem Wert des Lebens das Selbstbestimmungsrecht und das Wohl der betreffenden Person zu berücksichtigen. Diese begrüßenswerte liberale Haltung birgt nun ein Problem: Dworkin berücksichtigt nicht Fälle, in denen die Betreffenden zu keiner Zeit bewußt über sich verfügen können. Steht hier der objektive Wert des Lebens nicht allein und müßte Dworkin ihn nicht stark machen, um Euthanasie auszuschließen? Aber paßt das wiederum mit seiner liberalen Abtreibungsbefürwortung zusammen? Bei der Euthanasie läßt Dworkin Fragen offen.

Abtreibung und Euthanasie, diese heiklen Themen behandelt Dworkin in seinem Buch konstruktiv und sensibel; zur Abtreibung ist ihm sogar noch ein neuer Ansatz gelungen.

Ronald Dworkin: „Die Grenzen des Lebens. Abtreibung, Euthanasie und die persönliche Freiheit“. Aus dem Amerikanischen von Susanne Höbel, Cornelia Holfelder von der Tann, Wiebke Schmalz und Maja Überle-Pfarr. Rowohlt Verlag, Hamburg, 1994, 359 Seiten, 48 DM.

Das Buch wird Anfang September erscheinen