Viel Zeit für Gruppendynamik

■ Samstag, 20.8.94, die Blaue Karawane auf dem Weg nach Wolfsburg

Samstagmorgen, 20. August, die Blaue Karawane im Clubhaus des Rudervereins Magdeburg-Halle; gleich geht's in Richtung Wolfsburg weiter.

Von Wittenberg nach Magdeburg sind am Freitag 120 Kilometer zurückzulegen, ein volles Tagesprogramm. Das blaue Kamel, das jetzt nach einem beliebten Versprecher meist „blaues Karamel“ heißt, wird von der Kleinfähre „Punke“ geschleppt – die Außenborder des Symboltieres haben Mucken. An Bord der MS Wolfsburg viel Zeit für Gruppendynamik.

Schon morgens im Plenum der Schrecken jeder Versammlung: die Nichtraucherfrage. Die alten „Blankenburger“ sind meist härteste Raucher. Betreuer versprechen einen Aufstand, wenn es zum Rauchverbot unter Deck kommt. Doch plötzlich kommt die liebe Sonne und entzerrt das Problem, weil eh alle draußen sitzen wollen.

Grenzen innerhalb der Karawane: viele kennen nicht einmal den Namen der Mitreisenden. Doch der Antrag, alle mögen einen Tag lang ein Namensschild tragen, wird etwas pikiert abgelehnt. Öl ins Feuer der latent Unzufriedenen, die die Karawane gern etwas politischer hätten, zielgerichteter, gießt die Doku-Gruppe mit einem Fragebogen: Wie gefällt es Dir? Wie fühlst Du Dich? Wie empfindest Du die Atmosphäre hier? Man darf sich auf hübsche Diskussionen freuen.

„Lauter Blech“ und „théÛtre du pain“ sind von Bord gegangen und haben viel Spektakuläres mitgenommen. Die blaue Karawane – eine Reisegesellschaft auf dem Dampfer? Unter Deck hocken plötzlich zehn Schneiderinnen, die sich aus Nessel, glitzernden Lurex-Borden und blauer Viskose Karawanenkostüme nähen. Am Nebentisch schmieren sich erwachsene Menschen gierig Mengen von Nutella-Broten. Von Deck klingt ein Schifferklavier. Direkt über dem Schiffsdiesel – da ist es warm und windgeschützt – liegt Anne Pramann und schläft. Schläft sie? Die „Mutter der Karawane“ schläft nie und bekommt mit geschlossenen Augen alles mit. Gleichzeitig liest sie Katherine Anne Porters Roman „Das Narrenschiff“.

Sobald sich in einer Ecke etwas regt, das wie eine Aktivität aussieht, springen die Kamerateams von Radio Bremen und ZDF herbei und schieben ihre dicken Kameras und wuschelig verkleideten Mikros in die Szene. Ein Wunder, daß alle Teilnehmer diese aufdringliche Präsenz dulden. Offensichtlichen Streß gibt es nur unter den Kollegen – man schimpft, daß bei allen Einstellungen auch das Konkurrenzunternehmen im Bild ist.

Über Funktelefon meldet sich eine hektische Dame von der „Mecklenburger Volksstimme“, die eine Art Fototermin auf dem Wasser ausmachen will – nah dran und mit winkender Kamelbesatzung. Das Aufmacherfoto am nächsten Tag in der Zeitung ist verwackelt. Leider ist Magdeburg, das die Karawane gegen 7 Uhr abends erreicht (ca. drei Magdeburger sind zur Begrüßung gekommen), nur Schlafstätte für uns. Aber was für eine! Der Ruderclub liegt auf einer künstlichen Insel in einem Sport-Leistungszentrum. Es gibt Zweibettzimmer mit TV!!! Bei der Zimmerverteilung gibt es Tränen. Unproblematisch sind nur die „psychiatrisch Betroffenen“, die überhaupt erstaunlich stoisch das Karawanenpensum absolvieren.

Die am schlimmsten leiden, sind die Vegetarier. Ostdeutschlands Jugendherbergen und Sportclubs sind in einem immer großzügig: Wurst gibt's satt. Was bietet Magdeburg? Einen Grillabend. Traurige Fleischverächter sieht man an einem Brötchen voller Majo und Ketchup mümmeln; eine Ottersbergerin zaubert ein Döschen Tartex, eine Art fleischlose Leberwurst, aus dem Rucksack. Der Abend unterm Sternenhimmel endet in einem kleinen Kampftrinken zwischen Zonis und Bundis.

Klar unterliegen die westlichen Weicheier. Übrig bleiben eine Republikflüchtige, die von sich sagt: „Ich bin eine Betroffene,“ und Jens-Paul Wollenberg. Letzterer ist der Schrecken der Stadt Leipzig. Er kennt die Höllen dieser Welt und besingt sie mit einem erschütternden Organ. Seine Protagonisten sind Würmer und Ratten, just das Personal der psychotischen Schübe der „Betroffenen“, die schon mal nach der nächsten CD fragt (kommt nächste Woche raus).

Am Samstagmorgen verläßt die Karawane Magdeburg in Richtung Wolfsburg. Der taz-Reporter geht von Bord. Die gebotene journalistische Distanz aufrechtzuerhalten, wurde immer schwerer. Wäre er weiter mitgefahren, wäre er Karawanenmitglied geworden.

Burkhard Straßmann