Gott suchen und dem Bösen begegnen

Schwarze Hunde – über eine politische Metapher im neuen Roman des Engländers Ian McEwan  ■ Von Ekkehart Krippendorff

Wenn es so etwas gibt wie den psychologisch-politischen Detektivroman, der nicht einen Verbrecher entlarven, sondern etwas aus dem kollektiven Unterbewußtsein ans Tageslicht fördern will, dann ist es der jüngste Roman des englischen Schriftstellers Ian McEwan. Ein im äußeren Format – eine scheinbar ganz persönliche Geschichte – bescheiden auftretendes Buch, das die Frage: „warum soll ich mich für eine gestörte englische Ehe und deren etwa 40jährige Geschichte interessieren?“ bald gar nicht mehr zuläßt, wenn man sich nämlich auf die ebenso einfühlsame wie sympathische Erzählweise (vorzüglich übersetzt von Hans-Christian Oeser) eingelassen hat. Und fast, ehe man sich's versieht, ist es eine Geschichte im politischen Kontext von der frühen Nachkriegszeit bis zum Fall der Mauer, der die privaten Schicksale der Protagonisten konditioniert. Aber dieser Kontext bleibt nur der Rahmen einer Handlung, die um die Erklärung eines Zwischenfalles kreist, der zunächst auch nicht das Geringste mit Politischem zu tun hat – und sich dann doch als dessen unterdrückte und verdrängte Wahrheit herausstellt.

Zwei junge Leute, Engländer, während des Krieges für die Regierung und deren Unterstützung der französischen Résistance arbeitend, idealistische Kommunisten, machen ihre erste Auslandsreise als Jungverheiratete 1947 in das befreite Frankreich. Auf einer Wanderung durch die einsamen Wälder Südfrankreichs hat June, die junge Frau, ein Schockerlebnis, das sie zutiefst verwandelt und an dessen Verarbeitung – oder Nichtverarbeitung vor allem seitens ihres skeptisch-rationalistischen Mannes Bernard – ihre Ehe später zerbrechen soll: sie wird von zwei schwarzen Hunden angefallen und meint, in ihnen dem Bösen zu begegnen. So findet sie zu Gott. Als sie dem Bürgermeister des Dorfes von dem furchtbaren Zwischenfall berichtet, stellt sich heraus, daß es sich dabei um 1944 freigelassene und seitdem verwilderte Gestapo- Hunde handelte, mit denen die Deutschen vor ihrem Abzug Partisanen gejagt hatten. Aber je mehr wir nun – mehr aus Gesprächen angedeutet als ausgeführt – erfahren, um so komplexer wird das Bild: das der Ex-Kommunisten, das der Résistance, zu der jener Bürgermeister selbst gehört hatte, die Ehe unserer beiden Hauptpersonen, die mühsame Aufarbeitung von Vergangenheit und Gegenwart (Majdanek und Kreuzberg spielen da eine Rolle), die Dissonanzen zwischen dem inzwischen zum Labour-Reformer mutierten Bernard und seiner gottsuchenden June, die sich später in ihr Haus nach Südfrankreich zurückzieht.

Vor allem aber waren die Schwarzen Hunde nicht, wie es der Bürgermeister damals versprochen hatte, je getötet worden: sie überlebten in den Visionen der alternden Frau und, indirekt, in ihrer Leugnung durch den aufgeklärten Linken. Der hatte sich, kaum ging die Nachricht vom Fall der Mauer um die Welt, mit dem nächsten Flugzeug nach Berlin begeben, um bei diesem historischen Ereignis dabeizusein. Es sollte ihm schlecht bekommen, denn als er einen jungen Türken vor dem Angriff einer Gruppe von Nazi-Skins beschützen wollte, wurde er selbst angegriffen und schwer verletzt. Und da waren sie wieder, die Schwarzen Hunde, ohne daß der Erzähler es aussprechen muß.

Gespiegelt im Mikrokosmos der Lebensschicksale einer Familie – wir erfahren von der heutigen dritten Generation, und alle haben irgendwie von Junes spirituellem Erlebnis gehört, weshalb der erzählende Schwiegersohn die Geschichte zu rekonstruieren versucht –, wird das Urerlebnis mit den Schwarzen Hunden zu einer unheimlichen, verstörenden und den Leser schließlich selbst verfolgenden Metapher von eindringlicher Suggestivkraft. Eine politische Metapher für die europäische Geschichte und Gegenwart, für den Dauerschaden, den wir alle und noch für lange Zeit an dem Bösen zu tragen haben, das damals zurückblieb, nach dem äußeren Sieg über den Nazismus im untergründigen Unterbewußtsein fortlebte und verwilderte und darum noch immer in und unter uns ist.

Ian McEwan: „Schwarze Hunde“. Aus dem Englischen von Hans- Christian Oeser. Diogenes Verlag, 227Seiten, 34 DM