■ Nach sechs Jahrzehnten PRI-Regierung in Mexiko
: Eine Gesellschaft am Scheideweg

Mexiko steht am Scheideweg seiner Geschichte. Gestern fanden die am stärksten umkämpften Wahlen seit fünfzig Jahren statt. „Am stärksten umkämpft“ meint, daß die Partei der Institutionellen Revolution (PRI), die das Land länger als sechzig Jahre regiert hat, zum ersten Mal eine Niederlage wird akzeptieren müssen – oder einen Wahlsieg ihres Kandidaten Ernesto Zedillo ohne absolute Mehrheit. Das wirklich Neue ist nicht, daß die PRI verlieren oder nicht die Mehrheit erhalten könnte (viele von uns glauben eh, daß das in der Vergangenheit schon öfter vorkam), sondern daß sie ihre Niederlage wird akzeptieren müssen. Es geht nicht nur um Sieg oder Niederlage einer Partei, wie es auf den ersten Blick erscheinen könnte, sondern um eine tiefgreifende Veränderung der mexikanischen Gesellschaft.

Eine oberflächliche Analyse der jüngsten Geschichte Mexikos könnte zu dem Schluß kommen, daß die PRI, mehr noch als eine Partei, vor allem eine Institution der politischen Stabilität war. Plutarco Elias Calles hatte die National-Revolutionäre Partei (PNR) gegründet, den direkten Vorläufer der jetzigen PRI, um den Caudillos der mexikanischen Revolution einen anderen Weg zur Macht als die Gewalt zu weisen. Es gab dann immer einen Präsidenten, der sechs Jahre lang fast despotisch regierte, und am Ende erwählte er einen Nachfolger, der wiederum für sechs Jahre an die Macht kam, nach deren Ablauf auch er einen Nachfolger aussuchte. Sportlich ausgedrückt: Calles organisierte einen Staffellauf der Caudillos, die sich das Zepter der Macht in die Hand drückten.

Natürlich gab es immer einen Ausgewählten, einen Gesalbten, dem der ganze Hof Gehorsam schuldete. Aber all die Höflinge machten sich durch die Untertänigkeit zu Anwärtern auf Posten im bürokratischen Apparat: vom Staatssekretär zum Verwaltungsleiter über Abgeordnetenmandate, Gewerkschaftsposten oder Gouverneursstellen. Am besten drücken das zwei Slogans der mexikanischen Politiker aus: „Nicht vom Staatshaushalt zu leben heißt, im Irrtum zu leben“ und „Ich will nicht, daß mir gegeben wird; ich will dahin geschickt werden, wo es was gibt“.

Offensichtlich hat die PRI die breite Zustimmung der Gesellschaft gehabt. Der Durchschnittsmexikaner, das muß man klar sagen, hat den Politiker bewundert, der „sein Recht auf einen Anteil“ aus dem Staatssäckel wahrnahm. Nicht, weil ihm die Haltung der Politiker gefiel, sondern weil er selbst irgendwann einmal, dank glücklicher Fügungen (oder dank der richtigen Freunde) auch da landen könnte, „wo es was gibt“.

Eine der politischen Offenbarungen meiner Kindheit war es, als eines Tages in unserem Haus ein riesiges Weihnachtspaket eintraf. Ein Onkel von mir, der meinem Vater zum Verwechseln ähnlich sah, war gerade zum Untersekretär irgendeines Ministeriums berufen worden. Ein Bekannter von ihm hielt meinen Vater für meinen wichtigen Onkel und schickte dieses Geschenk zu uns nach Hause. Die Erleuchtung kam mir erst, als meine Mutter staunend die Weihnachtskarte vorlas: „Ich hoffe, Du erinnerst Dich an die glücklichen Jahre, als wir zusammen die Grundschule besuchten.“ Papa brach in schallendes Gelächter aus und rief prustend: „Dieser Idiot glaubt, daß mein Vetter ihm Arbeit gibt, nur weil sie irgendwann mal die gleiche Schulbank gedrückt haben.“

Das Leben hat mir gezeigt, daß nicht nur jener Herr diesen, sagen wir, Glauben an die Freundschaft hatte, sondern daß 90 Prozent der Mexikaner überzeugt sind, daß ihnen die auch noch so entfernte Bekanntschaft zu einem Politiker irgendwie nutzt, um tüchtig aus dem Staatssäckel abzuzwacken. Und diese Haltung hat eine Unterinstitution der PRI hervorgebracht: die politische Kumpanei, die zu einer der zentralen Waffen der PRI wurde, um so viele Jahre hegemonial die Macht zu besetzen.

Ich will ja nicht arrogant sein, aber ich kann feststellen, daß die mexikanische Gesellschaft naiv, verwöhnt und bestechlich war. Warum auch immer, aber sie war es. Das beste Beispiel hatten wir 1976, als der PRI-Kandidat José López Portillo ohne Gegenkandidaten zu den Wahlen antrat; und viele von uns wählten ihn. Wozu auch Opposition, wenn wir doch alle wollten, daß die PRI gewinnt? Die sechs Jahre, die folgten, waren – wenn nicht die korruptesten – so doch die wahnsinnigsten in Mexikos jüngster Geschichte. Angesichts steigender Erdölpreise zum Beispiel ging der Präsident davon aus, wir müßten uns auf den Wandel zur Überflußgesellschaft vorbereiten. Zwei Jahre später waren wir bankrott.

Die leckere Torte, die die PRI versprochen hatte, ist im Nu ranzig geworden, und ein guter Teil der Bevölkerung hat sich an ihr den Magen verdorben: Inflation, Arbeitslosigkeit, unkontrollierbare Korruption, Drogenhandel, soziale Unsicherheit, verstärkte Migration Richtung USA, Guerilla in Chiapas und politische Morde sind die Symptome einer Krankheit, die heute vielleicht einen Namen hat: Einverständnis mit der ewigen Straflosigkeit der Politiker, Hoffnung auf eigenen Anteil an der Korruption. Der Sünder war die Regierung – aber Absolution erteilte die gesamte Gesellschaft.

Man muß anerkennen, daß die PRI-Regierungen der letzten zwei Legislaturperioden die größten Übel beiseite geräumt haben, die uns López Portillo hinterlassen hat. Und es ist klar, daß der größte Teil der Zivilgesellschaft nicht mehr zurück will. Selbst jene, die in den kommenden Wahlen wieder für die PRI stimmen werden, wollen keine PRI mehr wie früher. Dieser Wille der Gesellschaft, daß sich die Exzesse der Vergangenheit nicht wiederholen, hat uns an den Scheideweg unserer Geschichte gebracht. Mexiko will anders werden, modern und demokratisch. Aber werden die alten PRI-Leute ein neues Mexiko akzeptieren? Werden sie einen Wahlsieg ohne absolute Mehrheit akzeptieren, also akzeptieren, daß sie, auch wenn sie stärkste Partei werden sollten, dennoch ein nicht mehr PRI-istisches Mexiko regieren, das nicht bereit ist, die Politik des „Schickt mich hin, wo es was gibt“ gutzuheißen? Oder mehr noch: Werden sie bereit sein, die Macht abzugeben, falls sie verlieren?

Der Kampf wird zwischen dem neuen und dem alten Mexiko ausgetragen, zwischen denen, die glauben, daß man auch weiterhin am Rockzipfel der Regierungspartei ganz gut leben kann, und denen, die glauben, daß die Gesellschaft reifer geworden ist und andere Optionen verdient. Wir müssen uns, ich sage das ohne Euphemismen, unseren Eintritt in die Moderne erobern. Auf dem Spiel steht die zivilisierte Gesellschaft, das zivilisierte Ausüben der Macht, der Respekt gegenüber dem Andersdenkenden und das Recht, zur größten Minderheit zu gehören. All das bestimmt unseren Übergang zur Demokratie, und ich hoffe, daß dies der Stoff ist, aus dem bald nicht nur unsere Träume, sondern auch unsere Realität bestehen wird. Sealtiel Alatriste

Der Autor ist mexikanischer Verleger und Schriftsteller, sein Essay erschien zuerst in

El Pais. Übersetzung: Bernd Pickert