Nichts wie weg aus Castros Kuba

Aus Autoreifen und Treibholz werden auf der Karibikinsel Boote gebastelt, die die waghalsigen Flüchtlinge in die USA bringen sollen / Die neue Politik Clintons hält die Massenflucht bisher nicht auf  ■ Aus Havanna Thomas Rahn

Die alte Frau trinkt gegen ihre Angst an. Die Flasche Rum, an der sie sich festhält, ist schon fast leer. Ihre Tochter sitzt im Schatten der Bäume und wartet. Die drei Männer hämmern noch an der Balsa, an dem Floß, das sie heute nacht aus Kuba wegbringen soll, nach Miami, in ein neues Leben. „Wir gehen ohne Angst“, sagt die Alte, nimmt noch einen Schluck und wiederholt: „Ohne Angst.“

90 Meilen, und das Floß, das sie bauen, ist erbärmlich. Nicht ein einziger Balken solides Holz. Im wesentlichen Styroporblöcke, eingerollt in eine große Plastikplane und gehalten durch eine halsbrecherische Konstruktion aus Spanholzplatten, Drahtgittern und Treibholz. Sie versuchen, noch ein paar Holzleisten mehr an ihrem Gefährt zu befestigen. Zwei lange Nägel haben sie noch, einen Hammer nicht. Die Metallgabel, die auf dem Meer ihre Ruder halten soll, muß jetzt erst einmal als Hammer dienen. In ein paar Stunden, wenn die Sonne untergeht und das Meer ruhiger wird, soll es losgehen.

Seit gestern arbeiten die fünf an ihrem Floß, hier, mitten in Havannas edelstem Stadteil Miramar, wo der Rio Almendares in die Karibik mündet. Hinter ihnen liegt der große Komplex des Hotels Sierra Maestra, einst zentrale Herberge für die Funktionäre und Aufbauhelfer aus den sozialistischen Bruderländern. Vor ihnen liegt das Meer, das verfluchte Meer. Ein Floß, das vor einer Stunde losgefahren ist, kann man vom Ufer aus noch deutlich erkennen. Zwei junge Kerle auf sechs zusammengebundenen Lkw-Reifen, die mit ihren Paddeln kaum gegen die Brandung ankommen. Weiter draußen, schon auf hoher See, sind noch zwei andere Balsas als kleine schwarze Punkte auszumachen. Nach 15 Meilen hat man kubanische Hoheitsgewässer verlassen und kann auf ein rettendes Schiff hoffen. Aber auf sechs Lasterreifen können auch 15 Meilen eine tödliche Ewigkeit werden.

Über 1.700 kubanische Boat people hat die US-Küstenwache am Wochenende aus dem Meer gefischt. Zu viele für eine Politik, die jedem Flüchtling aus dem Staate Castros automatisch politisches Asyl gewährte. Ab sofort läßt Bill Clinton kubanische Flüchtlinge abfangen und zurückbringen, in Sammellager auf der US-Militärbasis bei Guantánamo, im Südosten der kubanischen Insel.

In Kuba hat man diese Ankündigung des US-Präsidenten gehört. Aufhalten tut sie die massenhafte Fluchtbewegung bislang nicht. Die drei Schwarzen, die schwache Holzplanken um ihr Floß aus Styropor anbringen, wollen davon jedenfalls nichts wissen: „Weißt du was? Wir wollen weg, weg. Verstehst du? Weg!“ Was fragt man da noch weiter als Besucher, der in zwei Wochen ein Taxi zum Flughafen nehmen wird? Ob die Fahrt nicht zu gefährlich ist? Ob es das wert ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um in einem Sammellager in Guantánamo zu landen? Die Männer hämmern weiter mit der Rudergabel aus Metall.

Um sie herum haben sich bestimmt hundert Kubaner versammelt, die schauen, kommentieren, warten. Viele in Havanna spielen an diesem heißen August-Wochenende im Schatten kühler Bäume Domino oder sind mit ihren Kindern baden gegangen, sehen fern oder organisieren Essen für die kommende Woche. Aber immer wieder ziehen in diesen Tagen das Meer und die Boote der Flüchtlinge wie Magnete die Menschen an. Neid ist dabei, Bewunderung für den Mut derer, die's wagen, und die eigene Rettung ins Rationale, daß das ja lebensmüde ist, sich so ins Meer zu stürzen, una locura, ein Wahnsinn. Und dann wieder die Berichte von Verwandten, Freunden, Nachbarn, die's geschafft haben. Ein Schwager ist vor drei Tagen los, und gerade hat er aus Miami angerufen.

Ja, wenn ein richtiges Schiff kommen würde, ein ordentliches Boot, auf dem man halbwegs sicher fahren könnte, dann ... Doch größere Boote gibt es selten. Die sind alle Staatsbesitz. Und wo Boote liegen, wie hier an den Anlegestellen des Rio Almendares, hat der Staat die Sicherheitskräfte massiv verstärkt. In den Straßen patrouillieren Polizisten in Uniform, und die Zugänge zu den Anlegern sind von Wachen in Zivil abgesperrt. Manche von ihnen tragen stolz T-Shirts, daß sie zum „Contingente Blas Rosa Calderio“ gehören, jener Brigade von Arbeitern der Avantgarde, die mit Knüppeln und Metallstangen den Aufruhr am 5. August niedergeschlagen hat.

Trotzdem kam am Freitag ein richtiges Boot den Rio Almendares hinunter, und noch bevor es das Meer erreichte, hatten sich so viele vom Ufer aus auf das Boot gestürzt, daß es noch in der Flußmündung sank. Heute abend sind es nur zwei kleine Ruderboote, die den Fluß herunterkommen, höchstens drei, vier Meter lang, aber mit einem Motor, wie auch immer sie den organisiert haben mögen, jedenfalls zu schnell, um sie schwimmend vom Ufer aus zu erreichen.

Nach ihnen kommt eine Balsa, eines dieser kaum manövrierbaren Konstrukte aus Laster- und Traktorreifen, ohne Motor natürlich. Fünf Leute sind darauf. Vom Ufer springt ein junger Schwarzer ins Wasser und krault unter lautem Applaus auf das Floß zu. Die Balseros nehmen ihn auf, werden mit ihm, der nichts als sich und seine zerrissenen Shorts einbringt, ihre Vorräte an Wasser und Zucker, an Brot und an Gravinal-Tabletten gegen Seekrankheit teilen. Der nächste springt, und auch er wird aufgenommen. Beim dritten sagen die Leute auf dem Floß nein. Der 15jährige Sergio, der jeden Abend herkommt und auf ein „richtiges Boot“ wartet, ruft dem Floß dafür ein „Ihr schwulen Schlappschwänze“ hinterher. Dann zu den Umstehenden, als cooler Analytiker: „Seht ihr die Wolken dahinten? Auf dem Meer draußen ist Sturm. Die kommen nie an.“