Die verkehrte Welt des Sylvestre Kamali

■ Wie ein prominenter Ruander die Massaker der Präsidialgarden überlebte, sich jetzt als Angeklagter im Gefängnis in Kigali wiederfindet und das alles für einen Irrtum hält

Daß Sylvestre Kamali noch lebt, widerspricht jeder Logik. Er war ein hochrangiger ruandischer Diplomat. Er ist Hutu und hat eine Tutsi zur Frau. Er verließ vor zehn Jahren die ruandische Regierung und gründete, als solches 1991 legal wurde, die oppositionelle „Republikanische Demokratische Bewegung“ (MDR). Kurz: Er ist genau die Art von Mensch, die nach dem Beginn der Massaker in Ruanda am 6. April als erstes von den Milizen gesucht und umgebracht wurde.

Aber niemand hat Kamali auch nur ein Härchen gekrümmt. Er habe einen Freund in der Präsidialgarde mit 275 Dollar bestochen, damit er und seine Familie verschont blieben, erklärt er. Kamali lebt – und er sitzt in Haft.

Ruandas neue Regierung, beherrscht von der Ex-Guerilla „Ruandische Patriotische Front“ (RPF), sagt: Kamali überlebte, weil er einen der Massakerorte persönlich überwachte. Sie will ihn wegen Völkermords vor Gericht stellen, sobald es Gerichte gibt. Kamali könnte die Todesstrafe bekommen. Er ist der prominenteste Ruander, der zur Zeit wegen Völkermords im Gefängnis sitzt.

Ist Kamali Opfer oder Täter? Seine Geschichte ist die einer Zeit, in der die Welt um ihn herum verrückt wurde, eine Geschichte aus den Wirren des Völkermords.

Einiges scheint unstrittig. In den ersten Wochen der Pogrome versteckte Kamali sich mit Familienangehörigen und Freunden im Keller seines Hauses in Kigali. Oben auf der Straße wurde gemordet. Wenn man sich die Treppe hinaufwagte, waren durch das Fenster faulende Leichen zu sehen. Wieviele Angehörige seiner Frau umkamen, weiß niemand. Wahrscheinlich waren es über vierzig.

Anfang Juli konnten sie den Keller endgültig verlassen. Die Morde hörten am 4. Juli auf, als die RPF Kigali einnahm und die Streitkräfte der geschlagenen Regierung Richtung Zaire flohen. Nun dachte Kamali, er wäre sicher. Er irrte sich. Zehn Tage später wurde er verhaftet, nachdem – so erklärt RPF-Sicherheitschef Nyamwsa Kayumba – Zeugen ausgesagt hatten, er habe während der Massaker eine Straßensperre unweit seines Hauses geleitet. Die Morde in Kigali fanden vor allem an Barrikaden statt, an denen Passanten ihre Ausweise zeigten und beweisen mußten, daß sie keine Tutsi oder auf Listen genannte Regimegegner waren.

Kamalis Tochter Monique sagt: Ihr Vater stand tatsächlich für eine kurze Zeit im Juni an einer Straßensperre – aber er wurde dazu von der Präsidialgarde gezwungen, die drohte, sonst seine Frau umzubringen. Im Juni stand die RPF bereits am Rande Kigalis, und die Gardisten bemannten ihre Sperren mit Zwangsrekrutierten, während sie selbst ihre Flucht vorbereiteten.

Kamali stand also im Juni mit einer Kalaschnikow an einer Straßensperre in Kigali. Monique sagt: Er benutzte die Waffe nie. Er erwog niemals, jemanden hinzurichten. Er nützte vielmehr seinen Einfluß, andere vom Töten abzuhalten. Monique sagt weiter: Der eigentliche Grund, warum Kamali im Gefängnis sitzt, ist politisch. Er und der neue ruandische Premierminister Faustin Twagiramungu kommen aus rivalisierenden Flügeln der MDR. Twagiramungu dementiert das, sagt aber: Kamali war Mitglied eines „extremistischen Hutu-Flügels“, der den Völkermord verteidigt habe. Kamalis Prozeß, sagt der Premierminister, wird ein fairer Prozeß sein, es sollen Zeugen gehört und die Gesetze beachtet werden.

Sylvestre Kamali ist 59, ein rundlicher, weltgewandter Diplomat. Seit seiner Verhaftung am 14. Juli hat ihn kein Mensch zu Gesicht bekommen – bis zu dieser Journalistenvisite. Nun steht er barfuß, unrasiert und in nicht gewechselter Kleidung vor seinen Besuchern. Man habe ihn aus seinem Auto geholt, als er um seinen Führerschein gebeten wurde und er diesen nicht finden konnte, erzählt er. Die Verhaftung sei ein bürokratischer Irrtum. Man habe ihn wohl versehentlich aus den Augen verloren. „Wenn der Präsident oder der Premierminister wüßten, daß ich hier bin“, meint er, „wäre ich morgen wieder draußen. Das sind meine Freunde.“

Die Besucher erklären ihm: Die Lage ist anders. Die Regierung hält ihn für einen Mörder. Kamali ist schockiert. „Ich bin sicher“, sagt er schließlich niedergeschlagen, „daß niemand in Kigali mich jemals beschuldigen würde. Ich bin 59 Jahre alt. Ich habe niemals mit Mord zu tun gehabt.“

Kamalis Fall hat internationales Aufsehen erregt. Vier seiner erwachsenen Kinder, die in Belgien leben, setzten sich mit der Menschenrechtsorganisation Human Right Watch/Africa in Verbindung. Die hat der ruandischen Regierung ihre Besorgnis mitgeteilt.

Alison DesForges von Human Rights Watch hatte im Januar 1993 schon einmal mit Kamali zu tun, als sie in Kigali Anhörungen einer internationalen Menschenrechtskommission leitete. Kamali, der damals in der Stadt Gisenyi lebte, legte der Kommission Beweise für Angriffe auf Tutsis durch regierungsnahe Hutu-Todesschwadronen vor. Später hatte Kamali weitere Neuigkeiten: Hutu-Milizen hatten sein Haus niedergebrannt.

Ist Kamali Opfer oder Täter? Alison DesForges weiß es nicht. „Es war klar, daß er aussagte, weil er eine richtige Verachtung für Habyarimana hegte“, den damaligen Präsidenten, sagt sie. „Aber es ist denkbar, daß Mitglieder der Menschenrechtsbewegung später zu Mördern geworden sein könnten. Es ist keine unmögliche Verwandlung.“ Man kann das verstehen. In Ruanda haben Männer ihre Ehefrauen und Kinder umgebracht. Nachbarn haben Nachbarn aus Angst vor anderen Nachbarn ermordet.

Kamalis Frau Mukabarali ist am Boden zerstört. Ihr Mann – so sieht sie es – ist im Gefängnis, weil er sie retten wollte. „Er hätte Kigali verlassen können, als die Massaker anfingen“, sagt sie. „Aber er war sicher, daß man mich an einer Sperre anhalten und töten würde.“ Bis zu dem Gefängnisbesuch glaubte sie, ihr Mann sei tot. Jetzt muß sie nur noch um sein Leben fürchten.

Kamali bleibt zuversichtlicher – meistens. „Das Problem war Habyarimana“, sagt er. „Er hat die Ethnizität hochgekocht, um sich an der Macht zu halten. Jetzt ist er weg, eine neue Regierung ist im Amt, der Demokratie verpflichtet.“ Der Optimismus verfliegt bei der nächsten Frage: Wie ist es, wenn Hutus einem die Familie töten und Tutsis einen des Völkermordes anklagen?

„So ist die Welt“, sagt Sylvestre Kamali, bevor er zum Weinen die Brille abnimmt. Paul Taylor (wps), Kigali