Blues im Revier

TV-Kritiker umarmen das Fernsehen (Teil 5): „Polizeirevier Hill Street“  ■ Von Harald Keller

Ganz gegen die Realitäten des Programmangebots beschäftigt sich die TV-Kritik stets mit dem Neuen. Dabei lebt das Fernsehen von seiner Serialität. Die besten Formate sind selten die neuesten. Deshalb setzen sich die taz-Kritiker in dieser Serie ausschließlich mit liebgewordenen ALtlasten auseinander.

Das medienwissenschaftliche Sezierbesteck fehlte noch in den Schubladen des kleinen Studentenhausstands, als „Polizeirevier Hill Street“ 1985 vom ZDF erstausgestrahlt wurde. Uns Jungmenschen gefiel die Serie spontan, ohne daß wir lange über die Gründe räsonniert hätten. Gern erzählten wir uns am Mensatisch die schönsten Szenen und lachten herzlich beispielsweise über den allzeit schießwütigen Lt. Howard Hunter, der seine schwer armierte Einsatztruppe ein Auto umstellen ließ und den im Kofferraum eingesperrten Gangster drohend aufforderte, sich gefälligst zu ergeben.

Steven Bochco und Michael Kozoll, die Schöpfer und, temporär, Produzenten der Reihe, hatten sich ursprünglich gesträubt, nach Polizeiserien wie „Delvecchio“ oder „Paris“ eine weitere Cop- Show zu betreuen. Erst als das NBC Network ihnen weitreichende künstlerische Freiheiten gewährte, übernahmen sie den Auftrag und schufen mit „Hill Street Blues“ ein Format, das auf lange Sicht die Gestaltung serieller Fernseherzählungen beeinflußte.

Bochco und Kozoll brachen radikal mit diversen Konventionen. Als einigen NBC-Oberen erste Muster des Pilotfilms vorgeführt wurden, reagierten die Manager mit Entsetzen, weil die Eröffnungsszene mit einer Handkamera aufgenommen worden war – wider alle Lehrbuchregeln gab es keine Totale, die die Zuschauer zu Beginn mit dem Ort der Handlung bekannt machte; keine Nahaufnahme erleichterte die Orientierung, welcher der vielen Figuren denn nun Aufmerksamkeit zu schenken sei. Tatsächlich hatte die Serie gar keinen zentralen Protagonisten, sondern ein Dutzend gleichberechtigt agierende Charaktere – auch das ein grober Verstoß gegen den geläufigen Kanon.

Jede Episode folgte in etwa dem Ablauf eines Arbeitstages im Polizeirevier Hill Street und erzählte in parallelen Handlungssträngen vom beruflichen und privaten Alltag der Beamten. Diese wurden nicht als makellose Helden vorgeführt, sondern als Menschen mit Fehlern, Macken und Marotten. Themen wie Alkoholismus, Korruption, Polizeibrutalität und Rassismus gehörten neben einer guten Portion bitteren Humors zum Standardrepertoire der Serie; in mancherlei Hinsicht war die Belegschaft des Reviers ein Spiegel der US-Gesellschaft. Neben einer semidokumentarischen Kameraführung und einem entsprechenden Produktionsdesign vermittelte der Soundtrack aus Hintergrundgeräuschen und überlappenden Dialogen den Eindruck von Authentizität. Wie sehr sich diese Serie rein optisch von anderen unterscheidet, belegt eine Anekdote, derzufolge der Kameramann Bill Cronjager zu der „schlampigen“ Bildführung erst überredet werden mußte – er war zuvor nämlich eben seines außergewöhnlichen reportageartigen Stils wegen schon einige Male gefeuert worden und wollte diesmal seinen Job behalten.

Die elaborierte Ästhetik der Serie bedeutete eine Zumutung für das Publikum. Tatsächlich verzeichneten die Demoskopen nach Ende der ersten Staffel Quoten, die für andere Sendereihen das Aus bedeutet hätten. Die NBC- Verantwortlichen aber waren von ihrem Produkt überzeugt. Man hatte hervorragende Kritiken vorzuweisen, aber auch Untersuchungen, wonach sich die Serie unter Zuschauern mit Kabelanschluß – die mithin aus einem größeren Angebot wählen konnten als andere – großer Beliebtheit erfreute. Die Entscheidung, die Produktion fortzusetzen, erwies sich als richtig. „Hill Street Blues“ entwickelte sich zum Publikumshit, bekam im Laufe der Zeit 26 Emmys und blieb über sechs Jahre im Programm. Steven Bochco konzipierte später, gemeinsam mit der Ex-Staatsanwältin Terry Louise Fisher, die gleichfalls hochrangige Erfolgsserie „L.A. Law“. Im vergangenen Jahr lancierte er die Polizeiserie „N.Y.P.D. Blue“, mit der er thematisch wie formal an „Hill Street Blues“ anknüpfte und für die er auf Anhieb rekordverdächtige 26 Emmy-Nominierungen erhielt. Verschiedene Autoren, Dramaturgen und Produzenten der „Hill Street“-Schule zeichneten ihrerseits für bemerkenswerte Qualitätsserien verantwortlich, die Brandon Tartikoff, früher Programmchef der NBC, scherzhaft als „Sons of Hill Street“ apostrophiert: Titel wie „Miami Vice“, „St. Elsewhere“ („Dr. Westphall“), „Northern Exposure“ („Ausgerechnet Alaska“), „Twin Peaks“ und „Homicide“.

„Polizeirevier Hill Street“ läuft ab heute jeden Dienstag um 21.15 Uhr auf dem Kabelkanal.