In Chiapas konnten viele nicht wählen

Die Unregelmäßigkeiten bei den Präsidentschaftswahlen in Mexiko sind eher auf mangelnde Vorbereitungen und Unerfahrenheit als auf systematischen Betrug zurückzuführen  ■ Aus San Cristóbal Ralf Leonhard

„Sollen wir die Urnen verbrennen oder einen Notar holen?“ fragte ein erboster Wähler auf dem Hauptplatz von San Cristóbal de las Casas im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas. „Feuer, Feuer!“ rief einer, der trotz Alkoholverbots reichlich schwankte. „Holt Subcomandante Marcos“, brüllte ein weiterer. Über 500 Wahlberechtigte, denen nach stundenlangem Schlangestehen in der prallen Sonne beschieden wurde, daß die Wahlzettel ausgegangen waren, machten ihrem Ärger Luft. Die Wahlkommission hatte angesichts der erbosten Menge die Flucht ergriffen und die vollen Urnen dem Volkszorn überlassen. Doch statt die Stimmzettel zu vernichten oder auch nur die Urnen zu öffnen, begannen die Bürger, sich zu organisieren und Listen anzulegen von all jenen, die ihre Stimme nicht mehr abgeben konnten. Zuletzt wurde ein Vertreter des Wahlinstituts herbeigeschleppt, der die öffentliche Auszählung mit seiner Gegenwart legitimieren mußte.

Nach und nach sprach es sich herum, daß das Problem nicht auf San Cristóbal beschränkt war. Denn die Parteien hatten im Februar einhellig beschlossen, den außerordentlichen Wahllokalen nur 300 Stimmen zuzuteilen. Denn in der Vergangenheit waren diese Urnen für die Nichtortsansässigen mit Stimmen für die Regierungspartei angefüllt worden. Die Vorsichtsmaßnahme erwies sich als Bumerang, denn während der Schulferien sind viele Mexikaner unterwegs und wollten am Urlaubsort wählen.

In Chiapas übertraf allein die Anzahl der Beobachter und Journalisten die Anzahl der Stimmzettel in den Sonderwahllokalen. In Tuxtla Gutiérrez, der Hauptstadt von Chiapas, zerstreute die Polizei eine aufgebrachte Menge, die sich anschickte, das Rathaus zu stürmen. In Villerhermosa, der Hauptstadt des Nachbarstaates Tabasco, vergriffen sich die frustrierten Wähler an den Urnen. In den Konfliktzonen von Chiapas war das Mißverhältnis besonders kraß. In der Militärbasis von Rancho Nuevo, 10 Kilometer außerhalb von San Cristóbal, konnten über 700 Soldaten nicht wählen. In Altamirano, einer Gemeinde, die am 1. Januar von der zapatistischen Befreiungsfront eingenommen worden war, blieben gar 2.000 Militärs und 500 Flüchtlinge von der Stimmabgabe ausgeschlossen.

Freie Wahlen sind etwas völlig Neues in Chiapas, wo viele Gemeinden erstmals wahrnahmen, daß es auch zulässig war, andere Parteien als die regierende PRI zu wählen. In Ocosingo hatte eine Wahlkommission größte Mühe, die betrugssicheren Plastikurnen zusammenzubauen, während der Präsident einer Wahlkommission am Rande von San Cristóbal ganz erstaunt über die empörte Reaktion der Beobachter war, als er begann, die Urnen mit Stimmen für die PRI zu füllen. Doch insgesamt hielten sich die Betrugsversuche in Grenzen, und die von Journalisten und Beobachtern festgestellten irregulären Situationen waren eher der mangelnden Vorbereitung oder einfach der Unerfahrenheit der Funktionäre zuzuschreiben. Früher war es üblich, den Stimmzettel offen auszufüllen oder die Sache überhaupt dem Dorfkaziken zu übertragen, der ein 100prozentiges Ergebnis für die Staatspartei garantierte.

Doch die politische Öffnung, die durch den Aufstand der Zapatisten zu Jahresbeginn erzwungen oder zumindest beschleunigt wurde, zeitigt bereits deutliche Folgen. In der Tzeltal-Gemeinde Oxchuc, eine Fahrstunde von San Cristóbal entfernt, lief eine von den Lehrern angeführte Organisation, deren Mitglieder vom Dorfobersten verfolgt wurden, geschlossen zur Partei der demokratischen Revolution (PRD) über. Im Dorf Zinacantán wurde der Bürgermeister Domingo Vásqez überführt, die Gelder für die Straßenpflasterung unterschlagen zu haben. Darauf rotteten sich am 14. Juli alle Männer zusammen, zerrten ihn aus seinem Haus und prügelten ihn halb tot. „Jetzt wählen wir die Opposition“, lachte ein junger Mann.

„Trotz einiger Probleme ist die Bilanz dieses Wahltags bisher äußerst positiv“, meinte Samuel Ruiz, der Bischof von San Cristóbal, der als Vermittler in den Friedensgesprächen mit den Zapatisten bei der Opposition große Glaubwürdigkeit genießt. Die zapatistische Befreiungsarmee ihrerseits hatte schon am Samstag in weiser Voraussicht angekündigt, daß auch ein Wahlschwindel keine unmittelbaren bewaffneten Repressalien nach sich ziehen werde. Viele betrachteten die Wahlen in jedem Fall als Ausgangspunkt für weitere Reformen, die vor allem durch den Druck ziviler Organisationen erzwungen werden müssen. In den von den Rebellen kontrollierten Gebieten waren die Guerilleros nicht als solche zu erkennen. Sie hatten Waffen und Masken abgelegt, um als Zivilisten ihre Stimmen abzugeben.