Eine Stadt auf dem Atom-Vulkan

■ Wladimir Kusnezow, gefeuerter Atom-Kontrolleur, hält einen Diebstahl von Plutonium aus Moskauer Forschungsinstituten für möglich, wundert sich aber auch über das Vorgehen deutscher Geheimdienste

Wladimir Michajlowitsch Kusnezow, 38, war jüngster Chef der Staatlichen Atominspektion der Russischen Föderation. Seiner Aufsicht unterstanden die atomaren Forschungseinrichtungen im Großbezirk Moskau, dem aufgrund von verwaltungstechnischen Merkwürdigkeiten auch Reaktoren in Norilsk und Tomsk unterstehen. Weil er zuviel kontrollierte, zwang man ihn im Dezember 1992, „selbst“ zu kündigen. Seine engsten Mitarbeiter gingen mit ihm. Sie bilden heute die „Moskauer Initiativgruppe zur Stillegung von Kernforschungseinrichtungen“.

taz: Aus Ihrem letzten offenen Brief an die Abgeordneten der Duma geht hervor, daß wir hier in Moskau auf einem atomaren Vulkan leben.

Wladimir Kusnezow: In Moskau gibt es über hundert gefährliche Objekte, die der Atomforschung dienen, und das in dieser dichtbesiedelten Stadt von offiziell neun Millionen Einwohnern. Hinzu kommt, daß auch leitende Ingenieure die Sicherheitsvorschriften oft nicht kennen. Was die Bausubstanz betrifft, so stammen viele dieser Reaktoren und Laboratorien noch aus den 50er und 60er Jahren. Sie entsprechen in keiner Weise den heutigen Sicherheitsnormen. Dazu kommen gewaltige atomare Abfallager, von denen eines bis zu 30 Mio. Curie bergen kann – das ist ein halbes Tschernobyl. Diese Komplexe sind in bestimmten Stadtvierteln gebündelt und so dicht verschachtelt, daß es, wenn da ein Reaktor hochginge, zu gewaltigen Dominoeffekten käme.

Das Kurtschatow-Institut, das relativ nahe am Stadtzentrum liegt, hat allein schon 28 Reaktoren. Dazu gehört ein zwei Hektakr großes Endlager für atomare Abfälle. Da liegen diese Sachen schon seit den 40er Jahren. Und was genau da liegt und wie es liegt, das weiß bis heute niemand. Und dabei ist das ein Endlager, wie es für die Arbeitsweise der Vorgänger unseres Atomministeriums typisch war: Es wurde eine Grube gegraben, alles reingeschüttet und die Erde drüber hübsch glatt geklopft. Und nebenan verlaufen Luftschächte für die Metro. Selbst ich als staatlicher Inspektor, dem sie dort immerhin rechenschaftspflichtig waren, habe vier Monate gebraucht, um vom Tor des Instituts bis ins Innere dieses Geländes vorzudringen.

Mußten Sie wegen dieser Hartnäckigkeit gehen?

Wir haben im Laufe von vier Monaten zwölf atomare Experimentieranlagen dichtgemacht. Und das hat nicht allen gefallen. Vor meiner Kündigung habe ich noch etwas für mich selbst getan und ein Laboratorium in meiner Nachbarschaft geschlossen. Unser Ziel ist jetzt, alle atomaren Versuchsanlagen in Moskau zu schließen, was schwierig zu erreichen sein dürfte. Ich halte es nämlich durchaus für wahrscheinlich, daß Jegor Gaidar auch wegen seiner konsequenten Haltung in ökologischen Fragen als Ministerpräsident gestürzt wurde. Unter seiner Ägide wurden zwei Kernreaktoren geschlossen, und weitere standen auf der Liste. Tschernomyrdin als Spitzenmanager der Gas- und Erdöl-Industrie findet mit den Direktoren aus der Atomlobby eine gemeinsame Sprache.

Wie steht es denn nun mit der Möglichkeit, radioaktive Materialien zu stehlen?

Wir haben schon früher auf diese Möglichkeit hingewiesen. Wenn wir den Zaun des Kurtschatow-Instituts nehmen, so sind einige Alarmanlagen darauf Jahrzehnte alt. Was aber die Bewegungen betrifft, die das Material innerhalb solcher Institute vollzieht, so lassen sie sich kaum nachweisen. Ich persönlich bin auch gegen die Verträge eingetreten, denen zufolge jetzt radioaktives Material aus unseren atomaren Sprengköpfen in die USA verkauft wird. Darauf sind wir organisatorisch nicht vorbereitet. Und wer in irgendwelchen Fabriken 300 solcher Sprengköpfe auseinandernehmen läßt, der schafft geradezu ideale Bedingungen dafür, daß das Material unehrlichen Politikern in die Hände fällt.

Sie halten es also auch für möglich, daß zur Waffenproduktion geeignetes Plutonium in Rußland gestohlen wird?

Auch das ist möglich, aber nicht nur hier. Ich weiß, daß es in den USA solche Fälle gegeben hat, daß vor einiger Zeit in Japan eine größere Menge rätselhaft verschwand. Ein effektives Kontrollsystem kann meiner Meinung nach nur auf internationaler Ebene geschaffen werden. In dieser Hinsicht gibt mir das Verhalten der deutschen Sicherheitsdienste zu denken. Wenn ich jemanden mit so einem Plutonium-Köfferchen abfange, bin ich doch erst einmal mucksmäuschenstill und verfolge die Fäden, die sich von dieser Person aus spinnen. Wenn der Fall hinausposaunt wird, erreiche ich nur, daß sich die Atom-Mafiosi für eine Weile flach auf den Bauch legen, um wieder aufzustehen, wenn für sie ein günstigerer Wind weht. Hier wäre Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste vonnöten gewesen und nicht gegenseitige Verdächtigungen. Ich habe das Gefühl, daß das alles irgend jemandem sehr, sehr gut zustatten kommt. Interview: Barbara Kerneck,

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