Von einem, der es nicht geschafft hat

■ Alle hundert Meter steht ein Floß, Menschen hämmern und basteln an ihren Fluchtgeräten / Ein angespülter Leichnam hält niemanden von der Fahrt übers Meer ab

Die Venen treten dunkelblau und aufgedunsen auf der Brust des Toten hervor, auf seinen Oberarmen, seinem Hals. Der linke Arm ist in einer bizarren Verrenkung erstarrt. Über den Kopf hat man ihm sein T-Shirt gezogen. Wo der Mund ist, ist das Hemd blutverklebt. Er war hinausgegangen aufs Meer, auf einer der „balsas“, diesen improvisierten Flößen, auf denen Tausende von Kubanern aus ihrer Heimat fliehen, und das Meer hat ihn zurückgespült an den Strand von Cojimar acht Kilometer vom Zentrum Havannas, am Sonntag um 15 Uhr, nach einem elenden Tod. Auf zwei Sandsäcken hat man den Leichnam aufgebahrt, und die beiden Polizisten vor Ort fordern über Walkie-Talkie Verstärkung an.

Hier in Cojimar steht fast alle hundert Meter ein Floß, mit dem sich Kubaner, die in ihrem Land jede Hoffnung verloren haben, nach Miami oder zumindest in die Arme der US-Küstenwache paddeln wollen. Und die Trauben von Schaulustigen, die um jedes dieser Konstrukte aus Holz, Styropor und LKW-Reifen stehen, scharen sich nun um den Toten.

Die Verstärkung erscheint in zivil. Ein Mann um die 60, in einem blauen T-Shirt mit „Crazy Clothing“-Aufdruck, übernimmt militärisch das Kommando. Die Leute werden zurückgedrängt, der Trupp in zivil schirmt in einem großen Kreis den Toten ab.

Die Zivilen tragen alle ein blau- weißes Band ums Handgelenk. Ein Erkennungszeichen, das es nicht braucht; ihr Auftreten reicht, um zu wissen, daß sie die Macht verkörpern. Die, die Befehle geben, sind Profis in Sachen Staatssicherheit, und etliche der sportlichen Kerle, die den Ring bilden, wohl auch. Aber etliche in dem Abschirmring um den Toten sind allem Anschein nach auch kurzerhand mobilisierte Normalbürger aus dem örtlichen „Komitee zur Verteidigung der Revolution“ und dem Kommunistischen Jugendverband, die seit den Unruhen vom 5. August in Alarmbereitschaft sind. Sie sagen nichts zu den Leuten um sie herum, und diese sagen nichts zu ihnen.

Ein Alter will durch, verdammt, sein Sohn ist vor zwei Tagen raus, und vielleicht ist das da sein Sohn, er will ihn sehen. Später, später, wenn der Tote im Leichenschauhaus ist. Hier kommt jetzt niemand durch. Ein Blutbad ist das da draußen, sagt der Alte bitter und geht.

Mehr „Zwischenfälle“ sind nicht zu berichten. Die Leute stehen und schauen. Das Staatsfernsehen fährt vor, filmt den Toten für die Abendnachrichten. Ein Mann mit schnellem Mundwerk wird für die Kamera als Volkes Stimme interviewt: Wer übers Meer flieht, weiß, daß er mit dem Tod spielt; aber sie haben die Freiheit, zu tun, was sie nicht lassen können, wenn die USA legale Visa erteilen würden, könnte dieser junge Kubaner noch leben. Die Stimme des Volkes wird sich später wie selbstverständlich innerhalb des von den Zivilen gezogenen Kreises bewegen, und der Alte im blauen „Crazy Clothing“-Hemd wird ihm auf die Schulter klopfen.

Der Rest ist Routine. Der Wagen der Gerichtsmediziner kommt, der Leichnam wird auf eine Bahre geladen und weggefahren. Die Leute gehen zurück zu den Flößen, die am Strand für die Überfahrt hergerichtet werden. Die angeschwemmte Leiche hat hier niemanden von der Arbeit an seinem „balsa“ abgehalten. Selbstvergewisserungen gegen die Angst vor dem Tod; eine Frau meint, den Toten erkannt zu haben, doch doch, gestern ist der raus. Völlig verrückt, ganz alleine, und dann noch besoffen. Man muß zu mehreren gehen, vorbereitet sein. Ihre Zuhörer nicken.

Keine 50 Meter von dem Ort, an dem der Leichnam lag, werden die letzten Handgriffe an einem großen Floß angelegt, mit zwei soliden Holzplanken an beiden Seiten, sechs großen LKW-Schläuchen, einem Mast und einem Kiel. Acht Leute werden sie sein. Die Kommentare der Umstehenden drücken Anerkennung aus: Wirklich, ein gutes Floß. Thomas Rahn, Cojimar