Unter Aufsicht losballern

■ Location St. Pauli: „Träum weiter, Baby!“ oder wie ein Showdown im Parkhaus entsteht

Kein Wunder, daß Obdachlose die Nächte in diesem Ambiente nur im Vollsuff ertragen können, ist der erste sinnliche Eindruck am Set. Saurer Uringeruch hängt im Parkhaus überm Supermarkt an der Feldstraße. Am Dienstag morgen laufen hier um neun Uhr die Vorbereitungen zum ausgetüftelten Showdown des Thrillers Träum weiter, Baby auf Hochtouren.

Der Kameraassistent sitzt auf einem schmalen Stahlträger unter dem Dach, während ein Kleintransporter, das Fluchtauto ausgebüchster Knackis, immer wieder zum Schleudergang ansetzt – dreimal, viermal, fünfmal. „Ein Mitarbeiter der Gemüseabteilung, bitte zur Kasse!“ quäkt es aus dem Markt-Lautsprecher dazwischen, Kunden stellen ihre Wagen ab, aber das Team hat solche Störungen im Blick.

Drei Tage dauern die Aufnahmen zu den 30 Zeilen am Ende des Drehbuchs, in denen hauptsächlich Reifen quietschen, Fluchtfahrzeuge herumschleudern und tödliche Schüsse fallen. Etwa 50 Menschen warten oder wieseln umher. Sie besprechen in Grüppchen die Details der geplanten Einstellungen am zwölften Drehtag von Träum weiter, Baby, dem neuen Film des Hamburger Regisseurs und Autors Lars Becker. Nach gut 30 Drehtagen in Hamburg, Niedersachsen, Belgien und Italien soll das „Baby“ bis Ende Oktober abgedreht sein.

Nicht nur weil das Parkhaus unweit seiner Produktionsfirma Wüste-Film liegt, hat Becker sich entschlossen, hier zu filmen. Viel wichtiger sind ihm die guten Arbeitsbedingungen vor Ort. „Es ist kein enger Schlauch, sondern hoch und vor allem grau“, nennt Becker die Vorzüge der Location und ergänzt: „Auch vom Licht her ist es optimal und graphisch klar strukturiert, so daß man dramaturgisch genau arbeiten kann.“ Am wichtigsten ist ihm jedoch: „Es macht eigentlich keinen Spaß, hier zu sein“. Und genau deshalb dreht Becker hier. Im Film ist die Szene übrigens in Aachen angesiedelt.

Nur einige grelle Graffities lindern das Grau der Wände, nach den Dreharbeiten müssen sie – der Supermarktordnung wegen – wieder überstrichen werden. Nach fünf Klappen ist die erste Schleuderszene des Tages im Kasten. Christian Redl alias Kommissar Goethals, Bernd Stegemann alias Hilfskommissar Siegel und einige RiPos („richtige Polizisten“ in MEK-Outfit, die hier ihre Überstunden abfeiern) schleichen im Gänsemarsch an einem Pfeiler längs, um die verfolgten Knastflüchtlinge zu stellen. Dreimal, viermal, fünfmal rast die Kamera in der alten offenen Ente des Kameramanns Benedict Neuenfels vorbei – dann sitzt die nächste Szene.

Wieder Zeit zu warten, bis Beleuchter, Toningenieure und Kameraleute den nächsten Take vorbereitet haben. Gelegenheit, mit Christian Redl über seine erste Kommissarrolle zu plaudern. Er mag den Goethals, den souveränen Einzelgänger mit guten Manieren und eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit. „Allein der Anzug“, sagt er, den Mantel öffnend, um das gute Stück vorzuführen, „ist ein Schritt auf die andere Seite.“ Bisher glänzte der Theaterschauspieler Redl in Film und Fernsehen eher als Hammermörder oder Kinderschänder, als – nach eigener Einschätzung – „schrecklicher Mensch“. Aber: „Das ist mein erster Kommissar und hoffentlich mein letzter. Ich habe keine Lust, mich festlegen zu lassen.“ Erwartungsdruck liegt nach seinem ersten Thriller auch auf Regisseur Lars Becker. Mit Schattenboxer konnte er einen Überraschungserfolg bei den Filmkritikern landen, der bis nach Hollywood schallte. Mit Träum weiter, Baby! muß er sich nun bewähren. Schon bei der Realisierung der Story, die sich an der Celler Geiselnahme orientiert, bei der vor einigen Jahren Gefangene ihre Freilassung erpressten, mußte er Zähigkeit beweisen. Auch das chaotische Gerangel um die Hamburger Filmförderung verzögerte die Drei-Millionen-Produktion, die von Filmbüro und Filmfonds gefördert wird.

Die Mittagspause naht. Grüppchenweise zieht man sich ins Kantinenmobil zurück, wo Christian Redl gerade seinen schwarzen Humor pflegt. Den Höhepunkt des Tages habe er noch vor sich, wenn er am Nachmittag endlich den Herrn H. abknallen könne – dreimal, viermal, fünfmal! Wer dieser Herr H. ist, das bleibt – wie der ganze Showdown – ein Geheimnis bis Ende März 1995, wenn's auf der Leinwand heißt Träum weiter, Baby!. Julia Kossmann