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Westylonia, Trip ohne Stoff

Mit Colourscape, Cybertron und dem Erleben archaischer Gefühlswelten lockt die Reemtsma-Zigarettengruppe seit gestern Nachwuchsraucher an  ■ Von Peter Lerch

Die von der Decke baumelnden, sandsackähnlichen Gebilde am Eingang der „West Sensual Zone“, einer gestern im Lustgarten eröffneten Werbeveranstaltung der Firma „West“, sind aus Plüsch, Hart- und Schaumgummi. Man hat die Walzen so gehängt, daß man sie wegrempeln muß, wenn man passieren will. Im Raum dahinter plötzlich wüstes Gekreische: „Du dreckiges Arschloch! Du Wixer! Du Votzenschänder! Du Scheißhaufen! Verschwinde!“ Die sich überschlagende Frauenstimme wird begleitet durch orgiastisches Gestöhne und Raubtiergebrüll, das aus den zahlreichen Säulen dröhnt und den Schimpfe- Reaktor zu einem Muß für jeden Verbal-Masochisten macht.

In einer Ecke zusammengekauert hockt eine Reporterin und notiert kopfschüttelnd die nicht enden wollenden Unflätigkeiten, deren kreative Vielfalt beinahe künstlerischen Wert haben dürften. Es folgt eine Dunkelkammer, in der man sich nur tastend bewegen kann. Immer wieder laufe ich in tote Winkel, drücke mich an die Wand. Die Kammer geht übergangslos in einen Bereich über, der immer noch dunkel und labyrinthartig, nun aber mit verschiedenen Materialien ausgekleidet ist. Mal klebt's, mal kitzelt einen was am Riechorgan, dann wieder kriegt man die Kniegegend gebürstet.

Schlagartig hellt sich die Szenerie auf. Lichte Milchkuhmuster aus Filz an Wänden und den Lappen, die im Weg rumhängen. Dazu gibt's Molkereigeräusche und Kuhstallgeruch. Dann Maschinenlärm. Jede Menge Giftfässer und ölige Rauchschwaden, die aus klaustrophobisch verschlungenen Leitungen dampfen. Passend zu den Totenköpfen auf den Fässern die geschmackvoll von hinten beleuchteten Ganzkörperskelett-Röntgenaufnahmen, die wiederum auf recht surreale Weise mit der Badewanne voll synthetischer Exkremente in den Proportionen eines Bukowskischen Bierschisses harmonieren.

Ein nervenaufreibendes Erlebnis auch der Zahnarzttunnel. Schaurige Bilder von miserabel plombierten Zähnen in Postergröße. Stroboskopflackern und tekkno-lautes Bohrerjaulen sind dazu angetan, den nächsten Zahnarztbesuch um ein Vierteljahr zu verschieben. Nach einem Gewölbe, das derart geschickt ausgeleuchtet ist, daß man zwangsläufig über einen meterhohen schwarzen Gummiball stolpert, lasse ich mich in ein Becken voller Kunststoffkugeln fallen. Meeresrauschen und Brandungsdonner verleiten zu Schwimmbewegungen.

Aber letztlich erweist sich gemäßigtes Krabbeln als die angemessene Fortbewegungsmethode. Dann steht man plötzlich vor einem fetzigen, gardinenverhangenen Schlafgemach. Eindeutige Schmatzgeräusche erotischer Herkunft erfüllen den Raum. Das synchrone Flackern bunter Lichter entpuppt sich als Pornofilm, der mehr oder weniger scharf auf die verschiedenen Schichten der ausgeklüngelt aufgehängten Gardinen projiziert wird.

Die Ankündigung der Veranstalter, daß im Erlebnis-Container- System die Sinne auf vielfältige Weise gereizt und stimuliert werden und auf die Besucher nie gekannte Selbsterfahrungen lauern, kriegt gefällige Konturen. Aber dann ist die Container-Straße auch schon wieder zu Ende.

Was der Designer Matthias Gierten für die Hamburger Zigarettenfabrik mit der „West Sensual Zone“ geleistet hat, überbietet in der Tat so manches Feeling. Auch das der Suchtdroge Nikotin. Soll das Spektakel der Lullenstanzerei die „West“-Raucher mit der trüben Aussicht auf Krebs, Raucherbein-Amputationen und Kreislaufkapriziositäten versöhnen? Bettina Waege, Promotion Managerin von „West“, bezeichnet die Veranstaltung, die auch vom Münchner Computerriesen NEC unterstützt wird, als eine vom klassischen Marketing abweichende Werbung. Es gehe darum, neue Formen der Darstellung und der Auseinandersetzung mit sich selbst zu finden, heißt es.

Für die Pressestelle der Firma „West“ ist Kunst ein Impulsgeber: „Sich auf Neues, Andersartiges einzulassen bedeutet für die Marke, Grenzen zu überschreiten.“

Neben dem Cybertron, einer mit einer Art Röhnrad gekoppelten Cyberspace-Anlage, die jedoch in visueller Hinsicht qualitativ hinter kommerziellen Einrichtungen dieser Art zurückbleibt, und einem aufblasbaren Gummischlauch namens Colourscape, dessen verschiedene Farben Gefühlszustände variieren sollen, wenn man den Schlauch durchläuft, gibt's auch Container-Dunkelkammern für Blindversuche im Zigarettenrauchen. Klaro. Ein bißchen Bereitschaft, sich auf etwas Neues einzulassen, erwartet man schließlich auch von den Besuchern, selbst wenn sie für das Betreten der „West-Sensual-Zone“ fünf und für den Cybertron sogar zehn Mark berappen müssen.

Die Veranstaltung am Lustgarten endet am 28.8. 94. (Eintritt erst ab 18 Jahren)

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