In der Rolle des Fremden

■ Ignatz Bubis wollte über Zivilcourage reden - doch eine Kommunikation kam beim Besuch in Spandau nicht zustande

Eigentlich hatte die FDP aus aktuellem Anlaß zu einer Auseinandersetzung mit der Gegenwart ermuntern wollen. „Toleranz und Zivilcourage – verlorengegangene Bürgertugenden?“ lautete das Thema einer Diskussion mit rund einhundert Menschen auf dem Spandauer Marktplatz am Dienstag abend, zu der der Ortsverband Spandau-Nord das FDP-Mitglied Ignatz Bubis geladen hatte.

Getreu dem Thema rief er zunächst zu mehr Toleranz und Zivilcourage im allgemeinen Miteinander auf: „Ich erwarte nicht, daß Bürger die Aufgaben der Polizei übernehmen, aber jeder kann sie wenigstens rufen, wenn etwas passiert. Man darf nicht wegschauen.“

Doch das Thema blieb zumeist abseits liegen. Denn obwohl die Mehrzahl der Teilnehmer der Erwartungshaltung Bubis' klatschend zustimmte, sahen einige Redner ihre eigene Vergangenheit kritisiert. Er hätte „wirklich“ nicht gewußt, daß seine Klassenkameraden in ein KZ gebracht worden wären, rechtfertigte sich ein grauhaariger Spandauer, „ich dachte, die seien wie alle anderen geflohen“. Man könne ihm doch keinen Vorwurf machen, wenn er nichts gesehen hätte. Daraufhin vereinzelt Beifall, aber auch Widerspruch. „Ganz schön kraß“ fände sie ein solches Geschichtsbild, sagte die 18jährige Schülerin Maike Helmann, die bei SOS Rassismus mitarbeitet, „daß jemand immer noch so denken kann...“

Der Zentralratsvorsitzende blieb derweil gelassen. Natürlich habe nicht einer alles wissen können, antwortete Bubis, der offensichtlich weder gewillt war, sich die Rolle des agitierenden Anklägers noch die des verständnisvollen Verteidigers aufdrücken zu lassen, dennoch aber unfreiwillig in die Rolle des Fremden kam. Er verwies auf die Tatsachen und die Geschehnisse, die jeder hätte sehen können. Als Beispiel führte er die Pogromnacht 1938 an, in der unter anderem die jüdische Synagoge am Spandauer Lindenufer angezündet worden war.

Hinweisen auf antisemitische Tendenzen in anderen Ländern begegnete er mit einer vorsichtigen Warnung vor solchen Vergleichen: „Wenn die Strasbourger Synagoge angezündet wird, dann ist das sehr schlimm, aber wenn so was in Deutschland passiert, kommen zusätzlich noch die Erinnerungen.“ Man laufe Gefahr, daß sich Geschichte wiederhole, wenn man sie vergißt, so Bubis, der sofort hinzufügte, daß Geschichtsbewußtsein für ihn nicht bedeute, daß die heutige Generation sich für die damaligen Ereignisse schuldig fühlen müsse. „Wir müssen uns aber damit abfinden, daß wir auch nach 50 Jahren nicht einfach einen Strich ziehen können.“ Man müsse vielmehr bereit sein, mit jemandem zu diskutieren, der fremdenfeindliche Parolen brülle, weil sonst eine allgemeine Gleichgültigkeit und eine schnelle Zunahme der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland drohe. „Geschichte ist auch die Zukunft – wenn wir über unsere Geschichte nachdenken, dann nur, um daraus zu lernen, sonst nichts.“ Anne-Kathrin Schulz