Wie fundamentalistisch ist Bangladesh?

Bengalen, Bangalen oder Bangladeschi – nach der Unabhängigkeit 1971 suchte die Bevölkerung des ehemaligen Ostpakistan eine eigene Identität. Gegen das Prinzip der Säkularität wandte sich zunehmend der politische Islam  ■ Von Bernard Imhasly

Neu-Delhi (taz) – Taslima Nasrin hat ihre Heimat verlassen – sie floh vor den Morddrohungen fundamentalistischer Fanatiker. In der Gesellschaft Bangladeschs und im Westen hat die Debatte um die feministische Schriftstellerin ganz unterschiedliche Gefahren- und Feindbilder mobilisiert. Und sie hat auch gezeigt, wie wenig die westliche Öffentlichkeit über die historische Entwicklung des Islam als politische Kraft in diesem Lande weiß. Wie fundamentalistisch ist der 120-Millionen-Staat Bangladesch eigentlich?

Gar nicht! meinten die Gründer Bangladeschs und stellten der neuen Verfassung des Landes kurz nach der Unabhängigkeit von Pakistan im Jahre 1971 vier Grundsätze voran: Nationalismus, Säkularismus, Sozialismus und Demokratie. Sozialismus und Demokratie gehören zum Standardinventar nachkolonialer Gründungsformeln, doch die anderen zwei – Säkularismus und Nationalismus – sind eng mit der Unabhängigkeitsbewegung verbunden.

1947 war Pakistan nach einem blutigen Ablösungsprozeß aus der Erbmasse des indischen Kolonialreichs hervorgegangen. Der neue Staat bestand aus zwei Teilen: dem heutigen Pakistan im Westen des indischen Subkontinents und dem ehemaligen Ostpakistan, bald zweitausend Kilometer entfernt. Das Zentrum der Macht lag im Westen.

Aufstand zur Verteidigung der eigenen bengalischen Sprache und Kultur

In Pakistan, dem „Land der Reinen“, sollten die Muslime des Subkontinents eine politische Heimat finden. Doch schon ein Jahr später kam es im Osten zu Protesten, als das Bengali, die Sprache Ostpakistans, zur Stärkung dieser islamischen Identität eine arabische Schrift erhalten sollte. Und als im Februar 1952 das westpakistanische Urdu wegen seiner bereits arabisierten Schrift zur einzigen Staatssprache Gesamtpakistans erklärt wurde, wurde aus dem Protest ein Volksaufstand mit Toten und Verletzten und Tausenden Inhaftierten.

Das wachsende Streben nach Eigenständigkeit im Osten hatte damit nicht nur seine ersten Märtyrer, sondern auch seine ideologische Richtung hervorgebracht: Nicht der Islam, sondern die bengalische Ethnizität fungierte als politische Leitidee. Daß die Rückweisung des Islam so schnell auf fruchtbaren Boden fiel, liegt an der besonderen Ausprägung des Islam auf dem indischen Subkontinent. Die Verkündigung des Glaubens geschah dort nicht in erster Linie durch das Schwert, sondern durch die mystische Tradition des Sufismus aus Persien – auch wenn es die Eroberung durch die islamisierten zentralasiatischen Mongolen gegeben hat.

Der Sufismus ließ sich besser mit dem lokalen Hinduismus und Buddhismus verschmelzen. Reliquienschreine muslimischer Heiliger wurden zu Pilgerstätten aller drei Gemeinschaften, ein Wundertäter konnte ohne weiteres den Namen Ramdeo Pir – wörtlich: (muslimischer) Heiliger des (Hindu-)Gottes Ram – tragen.

Der Glaube in seiner sufistischen Auslegung als Hingabe zu einem gerechten Gott fand bei den von Kasten und Feudalwesen gebeutelten Bauern und Handwerkern rasche Verbreitung. Er vermochte bei der Landbevölkerung die ursprüngliche Idee des Islam – die direkte Verbindung des einzelnen mit Gott, ohne Vermittlung über Klerus und Kirche wie im Christentum – bis in die heutige Zeit zu erhalten.

Im 19. Jahrhundert begann sich eine andere Tradition zu formieren: der Islam der „Ulema“, der Schriftgelehrten, die in städtischen Zentren die islamische Doktrin aufnahmen und weiterinterpretierten. In Indien war es vor allem die Schule von Deoband, welche einen politischen Islam zu predigen begann. Aus dieser entwickelten sich sowohl die islamistische „Jamaat Islami“-Partei als auch der „Tabligh Jamaat“.

Die britischen Kolonialherren hatten ihre indischen Untertanen nach dem Prinzip „Teile und herrsche“ regiert. Die Fremdherrschaft zeigte besonders den gebildeten Schichten – Hindus wie Muslimen – die Schwäche ihrer eigenen Kultur auf, und die christliche Missionierung wirkte als direkte Bedrohung – und Vorbild.

„Hindus“ und „Muslime“ als Schöpfung der Kolonialherrschaft?

Das Resultat war eine Wiederbelebung von Islam und Hinduismus, besonders im Bengalen des 19. Jahrhunderts. Die antikoloniale Sprengkraft dieser Bewegung wurde von der britischen Kolonialverwaltung jedoch aufgefangen: Sie öffnete Handel und Verwaltung für eine lokale Elite und versuchte zugleich, diese Elite durch Anglisierung „unschädlich“ zu machen.

Noch folgenschwerer aber war es, daß die Briten beide Gruppen gegeneinander ausspielten, in dem sie ihnen getrennte Wahlrechte gewährte. Es war das erste Mal, daß die beiden Gemeinschaften sich damit als „Hindus“ und „Muslime“ gegenüberstanden – bis dahin war es durchaus üblich gewesen, auch von einem „muslimischen Hindu“ zu sprechen. Das Resultat: Erstmals in der Geschichte kam es um die Jahrhundertwende zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen beiden Gemeinschaften.

Selbst Mahatma Gandhi und der Kongreßpartei mit ihrer betont „säkularistischen“ Verfassung gelang es nicht, die wachsende Spaltung großer Bevölkerungsteile des Subkontinents entlang religiöser Trennlinien aufzuheben. Das Resultat war die Gründung Pakistans, verbunden mit Hunderttausenden von Toten und der Migration von Millionen.

Die Etablierung von „Hindu“ und „Muslim“ als sozial relevante Kategorien – im 19. Jahrhundert noch ein Phänomen der städtischen Schichten – erfaßte nun auch die ländliche „Kleine Tradition“. In der bitteren Trennung und dem darauffolgenden Zerwürfnis zwischen Indien und Pakistan entwickelte sich dies zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen.

Der Kampf um die Unabhängigkeit Bangladeschs mit seiner ethnischen Stoßrichtung konnte diesen religiösen Faktor eine Zeitlang neutralisieren. Er erlaubte die Wiederanknüpfung an die „Kleine Tradition“ eines Glaubens, in dem individuelle Frömmigkeit und religiöse Toleranz wieder Vorrang gewannen.

Angst vor der Übermacht des großen Nachbarn Indien

Die politische Geschichte Bangladeschs nach der Staatsgründung von 1971 schwächte diese säkularistische Tradition dann rasch wieder ab. Der bengalische Nationalismus, einmal befreit von dem sich islamisch gebärdenden Westpakistan, brauchte ein neues Gegenbild, von dem sich seine Eigenart abheben konnte. Es bot sich an in der Form des übermächtigen Nachbarn Indien, der das Land von drei Seiten einkreist. Die Gefahr, daß Bangladesch nur ein politisches Anhängsel Indiens werden würde, schien dabei um so größer, als die Metropole der bengalischen Kultur und Sprache ausgerechnet im indischen Kalkutta liegt. Da die Unabhängigkeit Bangladeschs sich also nicht in einer eigenen Landessprache zeigte, brauchte es ein neues Symbol, das die Nation von Indien abhob.

Die Politiker fanden es im Rückgriff auf das ursprüngliche Kriterium der nachkolonialen Staatswerdung – der Religion. Das war ganz im Sinne der islamischen Parteien, die im Unabhängigkeitskrieg auf der Seite Pakistans gestanden hatten und als Kollaborateure in den Untergrund getrieben worden waren. Sie ergriffen die Gelegenheit, sich wieder zu Wort zu melden und nun mit Hilfe des Islam zwischen „Bengalen“ und „Bangalen“ zu unterscheiden: Indien ist ein „Hindu-Staat“, Bangladesch ein „islamischer Staat“. Es mochte ein bitterarmes Land sein, aber es war, nach Indonesien, der bevölkerungsreichste islamische Staat der Welt.

Diesem symbolischen Bindemittel konnten sich die Generäle, die nicht lange nach der Unabhängigkeit die Macht übernommen hatten und auf der Suche nach einem politischen Programm waren, nicht verschließen. General Zia ur- Rahman machte aus einem „Bangali“ einen „Bangladeschi“, er ließ das Wort „Säkularismus“ aus der Verfassung entfernen und schob eine Präambel ins Grundgesetz ein, welche die Anfangssure des Korans wiederholte: „Im Namen Allahs, des Allmächtigen ...“. Doch weiter ging er nicht: Die säkulare Basis der Verfassung mit dem Prinzip der religiösen Gleichbehandlung aller Gemeinschaften blieb erhalten.

Zias Nachfolger General Ershad gig zehn Jahre später einen Schritt weiter und erhob den Islam zur Staatsreligion. Es war ein Versuch, sich den politischen Gegner – die Parteien und Studenten – vom Leib zu halten, indem er deren Forderungen nach Demokratie durch den Appell an den Islam unterlief.

Schlägertrupps der Partei des Präsidenten gegen Hindus

Er tat dies auch handgreiflich: Im November 1990 kam es nach der ersten Besetzung der Babar-Moschee im indischen Ayodhya in mehreren Städten Bangladeschs zu Ausschreitungen gegen Hindus. Später stellte sich heraus, daß diese Übergriffe von Schlägertrupps provoziert worden waren, die im Solde von Ershads „Jatiya-Partei“ standen.

Im Jahr 1992 zeigte die endgültige Zerstörung der Moschee in Ayodhya, daß auch in Indien „die Konstruktion des feindlichen anderen“ immer mehr auf einer religiösen Definition beruhte.

Zwar kam es – wie Taslima Nasrin dies in ihrem Buch „Schande“ beschreibt – nach dem 6. Dezember 1992 zur Zerstörung zahlreicher Hindu-Tempel in Bangladesch. Und selbst aufgeklärte Muslime geben zu, daß Taslima Nasrin recht hat, wenn sie sagt, daß die religiösen Minderheiten wenn nicht sozial, so doch ökonomisch diskriminiert werden.

Doch „eine Gruppe, die sich auf ihre religiösen Fundamente besinnt, tut dies heute nicht aus innerer Stärke, sondern als Angstreaktion auf eine Gefahr von außen“. Deshalb, so folgert der Politikwissenschafter B. K. Jahangir von der Universität Dhaka, „braucht sie einen Feind zu ihrer Selbstdefinition“. Und in Bangladesch können Muslime, die sich in ihrem Glauben bedrängt fühlen, diesen Feind entweder außen – in Indien – suchen, oder sie müssen ihn in ihrer eigenen Gemeinschaft finden: im säkularisierten Muslim oder dann im Abtrünnigen, im Apostaten.

Es ist das Schicksal Taslima Nasrins, daß sie gleich alle drei Feindbilder verkörpert: Sie ist scheinbar proindisch; sie ist aufgeklärt; sie stellt in den Augen vieler frommer Muslime selbst Kernbereiche der Religion in Frage.

Taslima Nasrin vereinigt gleich drei Feindbilder in sich sich – Als pro-indisch wird ihre häufige Feststellung verstanden, daß die indo- pakistanische Teilung von 1947 falsch war und daß sie rückgängig gemacht werden muß, falls ein echter Säkularstaat entstehen soll. Dies greift direkt das nationale Selbstverständnis selbst von Mittelklassebangalen an.

– Aufklärerisch: Für die doktrinären Muslime, die im Islam ein soziales, ja politisches Vorbild sehen, steht sie für einen Gegentypus: die liberale Muslima, welche den lebensregelnden Anspruch der Religion ablehnt und ihn ins Private verweist.

– Blasphemisch: Selbst die Muslime der toleranten ländlichen „Kleinen Tradition“ – wie auch städtische Liberale – reagieren mit Angst und Abwehr, wenn Taslima Kerngebote des Islam in Frage stellt – die Verehrung des Koran als einen inspirierten Text etwa.

Diese Bündelung mehrerer Feindbilder macht Taslima Nasrin zum klassischen Sündenbock. Dazu kommt, daß die Intelligenzija Bangladeschs der Feministin überwiegend kritisch distanziert gegenübersteht: Die Mehrheit der Intellektuellen wirft ihr vor, durch ihren Rundumschlag die Grundlage dafür geschaffen zu haben, daß eine Koalition heterogener Kräfte entstanden ist, die sich sonst nie auf derselben Plattform treffen würden. Unter dem Anti-Nasrin- Banner können die doktrinären Muslime nicht nur gläubige Bauern um sich scharen, sondern auch Mitglieder der städtischen Mittelschichten. Das ambivalente Verhalten der Regierung hat dies deutlich gemacht.