Der Urwald in der Turnhalle

■ Ein Sumpf aus Medizinbällen, das Flugzeug aus Turnbänken: Kinder brauchen Bewegungslandschaften statt strammem Geräteturnen

Ein siebenjähriger Junge setzt sich auf die Absperrleine und schaukelt. „Das ist kein Spielplatz hier“, ermahnt der Kassenwärter. Der Junge stellt sich neben die Mutter und wartet stehend in der Kassenschlange.

Großstadtalltag. Doch was gut ist für die Absperrleine, ist noch lange nicht gut für die Kinder. „Die Kinder müssen sich heute immer flach und geradeaus bewegen“, sagt die Hamburger Sportwissenschaftlerin Beate Blank. „Es gibt keine Hindernisse, keine Möglichkeiten zu springen oder zu klettern.“ Früher, da habe es auch in der Stadt Trümmergrundstücke und unerschlossene Gebiete gegeben, sagt auch die Diplomsportlehrerin Bettina Rollwagen. Heute sind im Innenstadtbereich selbst die letzten Baulücken geschlossen.

Folge: die Kinder haben zu wenig Platz, sich zu bewegen, zu wenig Gelegenheit, sich selbst auszuprobieren. „Kinder haben nicht mehr die Souveränität im Umgang mit ihrem Körper“, sagt auch Norbert Baumann, Sportexperte im Institut für Lehrerfortbildung (IfL).

Kinder, die nicht rückwärts gehen können, wie es oft heißt, seien ihr nicht begegnet. „Aber ich beobachte, daß die Kinder keine gute Aufrichtung von innen haben“, erzählt Bettina Rollwagen. Wenn Kinder wenig herumtollen und auf Bäume krabbeln, dafür aber viel sitzen, würden Muskelketten im Inneren nicht richtig ausgeprägt.

Die Folge seien „hypotone“ und „hupertone“ Kinder. Kinder, die zu wenig und die zuviel Kraft haben. Rollwagen: „Die sich nur spüren können, wenn sie sich bewegen und Widerstand haben.“ Denn Kinder erleben in der Großstadt zwar viele Reize, aber wenig, „was sie mit sich selbst erfahren“.

Die Sportpädagoginnen, die zu der Generation gehören, die wegen des Einstellungsstops nicht in den Schuldienst kam, haben ihre Erkenntnisse schon vor Jahren in eine neue Idee umgesetzt, die in Vereinen praktiziert wird. Die „Bewegungsbaustelle“ oder, weil es meist in der Halle stattfindet, die „Bewegungslandschaft“.

Rollwagen: wichtig sind Spielplätze mit losen Sachen, mit Material, das die Kinder für sich umbauen können. Ein paar Latten und Lkw-Reifen können eine öde Rasenfläche schon in eine Bewegungsbaustelle verwandeln.

In der Turnhalle baut die Sportpädagogin den Kindern die Geräte auf, „dann hat jedes Kind erstmal seine Zeit, etwas auzuprobieren“. Wichtig sei neben der angeleiteten eben die unangeleitete Bewegung. „Wenn ich dann sehe, ein Kind hat Schwierigkeiten und braucht mich, dann arbeite ich mit ihm.“

„Die Aufbauten müssen natürlich sicher sein. Aber sie müssen auch unsicher sein“, sagt Beate Blanke, die als Lehrreferentin des „Verbandes für Turnen und Freizeit“ auch Laien in dieser Technik ausbildet. Legt man eine Weichmatte auf Medizinbälle und begrenzt dies mit vier Turnbänken, so entsteht ein „unsicherer“ Sumpf. Zwei Turnbänke über Kreuz gebunden und an Ringen aufgehängt ergeben eine Riesenschaukel, auch Flugzeug genannt. Am liebsten springen die Kinder von der Sprossenwand in ein Sprungtuch.

Die Idee von Turnlandschaften ist alt, hat es sogar unter Turnvater Jahn schon gegeben. Aber in den 60er und 70er Jahren wurde das kinderfeindliche Zirkeltraining daraus, bei dem Tempo und Leistung zählen. Auch die Ausbildung der meisten Sportlehrer stammt aus dieser Zeit. Doch glaubt man Lehrerfortbilder Baumann, so sind Bewegungslandschaften „zumindest für den Grundschulbereich ein alter Hut“. Lediglich an Gymnasien sei traditionelles Turnen nach Noten noch sehr verbreitet. „An anderen Schulformen haben die Kinder das selbst abgeschafft“.

Im IfL sei man schon viel weiter. Da die Schüler von heute „nicht mehr fähig sind, 45 Minuten ruhig zu sitzen“, so Baumann, ginge der Trend dahin, insgesamt mehr Bewegung in den Unterricht zu bringen. Etwa mit Minipausen, Dehnübungen für die Nackenmuskulatur oder Jonglierübungen mit Tüchern zu Barockmusik.

Kaija Kutter