Brüder kann man nicht aussuchen

Die Russen in der DDR: Kaum jemand kannte die „unverbrüchlichen Waffenbrüder der ruhmreichen Sowjetarmee“ wirklich / Soldaten wurden restriktiv unter Verschluß gehalten  ■ Von Reinhard Weißhuhn

Schon die Bezeichnung „Russen“ klingt bis heute wie ein Frevel. In der DDR gab es dieses Wort offiziell nicht – inoffiziell dafür um so häufiger. Es waren, sofern in Uniform, „unverbrüchliche Waffenbrüder“ aus der „ruhmreichen Sowjetarmee“ und Angehörige des „Bruderlandes“. Bruderländer gab es mehrere, aber nur eines demonstrierte der DDR-Bevölkerung seine brüderliche Fürsorglichkeit auch in Form einer Armeestationierung. Nach einem DDR-Witz besteht zwischen Freunden und Brüdern ein entscheidender Unterschied: Freunde kann man aussuchen, Brüder aber nicht. Vielleicht war deshalb die verbreitetste Kurzbezeichnung für die ungeliebten Verwandten „die Freunde“. Diese Formel hatte quasi offiziösen Charakter und bedurfte keinerlei Erklärung. Sie konnte je nach Situation und Tonfall Wohlwollen, Respekt, Häme, Distanz oder Ablehnung enthalten.

Die Paradoxie dieser DDR-typischen Mischung war ihr Sinn – niemand konnte sie falsch interpretieren, weil jede Bedeutung möglich war. Paradox daran war auch, daß der Begriff „Freunde“ nicht nur euphemistisch war, sondern einfach jeder Grundlage entbehrte. Kaum jemand kannte diese Freunde wirklich. Die in der DDR stationierten sowjetischen Armeeangehörigen wurden fast vollständig von der Bevölkerung abgeschirmt. Am ehesten zu Gesicht bekam man noch die Offiziere und ihre Familien, die in mehr oder weniger abgesonderten Siedlungen wohnten. Dort spielten die Kinder der Offiziersfamilien streng für sich, wenn sie nicht gerade mit dem Schulbus unterwegs waren. Ihre Mütter gingen in die sogenannten „Russen-Magazine“ einkaufen. Die Offiziere selbst, praktisch immer in Uniform, gehörten zum Stadtbild jeder Garnisonsstadt. Mehr aber auch nicht, denn sie hatten keinerlei nicht-offiziellen Kontakt zu den Deutschen – abgesehen von gelegentlichen Schwarzmarktgeschäften.

Sehr restriktiv wurden die Soldaten unter Verschluß gehalten. Nur in Gruppen und unter Aufsicht ließ man sie in die Öffentlichkeit, wo sie in ihren verwaschenen Arbeitsuniformen hilflos hinter ihren Offizieren hertrotteten. Aus ihrem Dorf im Ural oder in der kasachischen Steppe in ein ihnen fremdes und sichtlich enorm reiches Land verschlagen, dessen Sprache sie nicht verstanden, das sie nie kennenlernten und über das sie vermutlich nur Propaganda hörten, blieben sie dem Leben in der Kaserne und auf dem Übungsplatz ausgeliefert. Ausgang gab es für sie kaum. Heimaturlaub schon gar nicht.

Panik bis zum Amok

Viele Menschen in der DDR können Geschichten über die Behandlung sowjetischer Soldaten erzählen, die trotz Verbots in deutschen Kneipen erwischt wurden. Natürlich betranken sie sich mit entsprechenden Folgen und wurden dann von der sowjetischen Militärpolizei gleich an Ort und Stelle zusammengeschlagen. Die Tataren, Baschkiren, Usbeken oder Litauer, die Russen, Jakuten und Tadschiken hatten in der Fremde existentielle Probleme. Dies wurde spätestens dann erkennbar, wenn wieder einmal einer ausbrach und sich auf den Weg nach Hause oder in den Westen machte. Diese Fälle, im Umfeld jeder Garnisonsstadt bekannt, wurden selten so spektakulär wie jener Mitte der 80er Jahre, der in einem Showdown an der Kreuzung Friedrichstraße/Unter den Linden endete. Sie alle vereint der Ausdruck von Verzweiflung, Panik bis zum Amok und Aussichtslosigkeit. Nicht selten begann eine Flucht gewaltsam. Buchstäblich orientierungs- und hilflos, ohne Kommunikationsmöglichkeit, irrten viele der Deserteure tagelang in den Wäldern herum, bis sie fast unweigerlich eingefangen wurden und von Glück reden konnten, wenn sie das überlebten.

Zur Isolierung der sowjetischen Soldaten trug natürlich auch das gelinde gesagt gestörte Verhältnis der DDR-Bevölkerung zur „großen Sowjetunion“ bei. Jeder, der in der DDR eine Schule besuchte, hatte mindestens acht Jahre Russischunterricht hinter sich, und zwar als erste, meist einzige Fremdsprache. Trotzdem ist der durchschnittliche russische Wortschatz kaum größer als der in einem englischsprachigen Discohit verwendete – wenn auch etwas anders zusammengesetzt. Dies kennzeichnet die Attraktivität all dessen, was aus der Sowjetunion in die DDR hineinwirkte. Die Gründe dafür sind banal, der Vergleich mit dem Discohit nicht zufällig. Die propagandistische Übertreibung der Bedeutung sowjetischer Wissenschaft und Kultur erzeugte statt Überzeugung nur Widerwillen.

Besatzerarmee oder nicht?

Es war nicht Aggressivität, die von den im Alltag beobachteten Russen ausging, und es war nicht Angst, die die DDR-Bürger angesichts ihrer Präsenz empfanden – wenn man von den unbeleuchteten LKWs absieht, die in souveräner Ignoranz der Straßenverkehrsordnung nachts die Landstraßen unsicher machten. Unsicherheit, gepaart mit Unkenntnis des jeweils anderen, dazu die Überheblichkeit des Reicheren und manchmal das Mitleid mit den armen Jungs beschreiben das Alltagsverhältnis eher. Nur für die Älteren gab es die reale Erfahrung des 17. Juni und vor allem die des Jahres 1945. Aber auch damals wurden nicht nur Frauen vergewaltigt, Bürgerwohnungen beschlagnahmt und Uhren und Fahrräder geklaut. Allen war bewußt, daß die Rote Armee entscheidend zur Niederlage Hitlers beigetragen und daß die Russen die größten Opfer dafür gebracht hatten.

Im Alltag wirkte die sowjetische Armee nicht als Besatzerarmee, als Instrument eines Imperiums zur Aufrechterhaltung der Herrschaft über seinen Teil der Welt. Gleichwohl war sie es, auch wenn manche verhinderte Oppositionelle nur zu gern diesen Umstand als Erklärung für ihre Passivität anführten. Es war nicht zu bestreiten – es gab außer dem Juni 1953 auch Prag 1968 und Afghanistan 1978. Aber schon 1981 genügte die überzeugend scheinende Drohung gegenüber Polen, um nicht etwa dort, sondern an den DDR-Stammtischen jeden Widerstand als Kamikaze-Unternehmen zu bezeichnen. Wie auch immer – die sich in den achtziger Jahren entwickelnde Opposition in der DDR sah über die Gefahr eines sowjetischen militärischen Eingreifens hinweg. Seit Glasnost und Perestroika wirkte die unausgesprochene Drohung zudem weit weniger ernst zu nehmen. Das Ende der DDR schließlich zeigte die Berechtigung der Annahme, daß die sowjetische Armee inzwischen tatsächlich mehr dem Augenschein ähnelte als dem Bild, das die Erfahrung mit dem Stalinismus erzeugt hatte. Auch deshalb gebührt ihr ein würdevoller Abschied aus Deutschland.

Der Autor ist Mitarbeiter der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und ehemaliger DDR-Bürgerrechtler.