The Frankfurt Principle

Mag es oder mag es nicht: In den Neunzigern kommt das Discofieber nicht mehr aus München, sondern aus Mainstrom City und seinen diversen Stadt-Satelliten – Hits aus dem Gewöhnlichkeitsnetz einer dezentralen Großstadtprovinz  ■ Von Jörg Heiser

Ein ganz normales mittelständisches Unternehmen: In der Strahlenberger Str. 125a in Offenbach, direkt vor den Toren Frankfurts, zwischen Teppichboden-Kaufhaus und Baumarkt, sind Logic Records ansässig. Einige Dutzend Mitarbeiter arbeiten dort daran, daß auch weiterhin jeder weiß: Der Rhythmus ist ein Tänzer aus Frankfurt.

Selbst im Mutterland der Popmusik weiß man das: „Rhythm Is A Dancer“ von Snap, dem bisher erfolgreichsten Dancefloor-Pop- Produkt aus dem Hause Logic, war 1992 ganz oben in den US-Charts. Und unablässig werden am Main weitere genau abgezirkelte und durchkalkulierte Dancefloor- Knaller produziert: für die Touri- Kaschemme in Ibiza wie den Edelclub in New York, für die Pfälzer Landei-Disco wie den englischen Megarave – bis dann die Renner darunter am Ende aus jedem Autoradio dröhnen.

Hitsville Mörfelden

Ein eigenartiger Erfolg, der sich fast ohne das Zutun der Musikpresse entwickelt hat – ein Supermassenphänomen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle professioneller Diskursgeber (die die Nase rümpfen). Wurden dafür schon Ende der Siebziger Welteroberungspläne geschmiedet? In den kleinen Orten rund um Frankfurt, wo die meisten derer, die heute auf den Produzentensesseln sitzen, herkommen – in Obertshausen und Sprendlingen, Butzbach und Mörfelden?

Wahrscheinlich nicht. Denn am Anfang stand nicht das Studio, sondern der simple Plattenspieler. Step by Step: Wenn einer damals vielleicht als DJ eine Wiesbadener Tanzschule beschallte, hat er zunächst nur davon geträumt, einmal in der Frankfurter Flughafendisco Dorian Gray aufzulegen (die auch heute noch neben dem „Omen“ in der Frankfurter Innenstadt der Ort ist, an dem DJs zu Stars werden).

Und dann hat so ein DJ irgendwann auch wirklich im Dorian Gray aufgelegt; und erst dann vielleicht selbst mal eine mit vergleichsweise einfachen Mitteln produzierte Dance-Maxi herausgebracht; und dann schließlich, am Ende dieser Kette, einen Riesenhit gelandet.

Test Tube Babies

Für die späteren Snap-Produzenten Luca Anzilotti und Michael Münzing ist es so oder so ähnlich gelaufen: Erst dies, dann das, bis sie 1987 mit „Electrica Salsa“ (zusammen mit dem aufstrebenden DJ-Beau Sven Väth) unter dem Projektnamen „Off“ drei Millionen Einheiten absetzten und europaweit auf Platz eins der Charts standen.

Aber trotz dieser Stufungen ist der Weg zum Hit alles andere als zufällig, und gerade das simple Plattenauflegen ist dafür entscheidend. Wenn man ein vorausblickender Geschäftsmann ist, probiert man schließlich – bevor man ein neues Produkt auf den Markt wirft – Prototypen am repräsentativen Testpublikum aus. Das Prinzip Frankfurt: Alle – ob Mark Spoon, DJ Dag oder früher Anzilotti und Münzing – legen sie im Dorian Gray (oder/und in Sven Väths Omen) auf. Und am dortigen Publikum haben die DJs wahrscheinlich das, was die Marktwirtschaftsstatistiker am pfälzischen Haßloch haben: eine ideale Durchschnitts-Population, die sich wunderbar zur Hochrechnung auf gesamtgesellschaftliches Kaufverhalten eignet.

Doch vielleicht ist Frankfurt mehr als das: ein ideelles Gesamt- Haßloch. Und vielleicht liegt das wiederum daran, daß Rhein-Main als Ballungsraum urbane und provinzielle Merkmale ineinanderblendet, daß anstatt einer Millionenstadt mehrere Hunderttausender-Städte und kleinere Städtchen ein dezentrales Gewöhnlichkeits- Netz bilden. Die Frankfurter City ist reines Geschäfts- und Einkaufszentrum; abends werden die Bürgersteige hochgeklappt, und nur in den wenigen maßgebenden Clubs und Discotheken geht es dann ab. Kommunikationsort der Szene ist nicht – wie in Köln oder Hamburg – der Kneipentresen, sondern alles, was auf dem Weg zur Tanzfläche liegt: Wohnung, Telefon, Café, Auto, Parkplatz, Disco-Klo.

Anzilotti und Münzing gelang 1989 mit ihrem Projekt Snap und dem Überraschungs-Welthit „The Power“ die endgültige Durchsetzung des Frankfurter Prinzips. Ihr Label Logic Records, das sie 1988 zusammen mit Matthias Martinsohn gegründet hatten, expandierte in den folgenden Jahren erheblich, eröffnete Dependencen in London und New York (Ende 1993 haben die beiden Erfolgsproduzenten ihre Anteile an dem von Matthias Martinsohn geleiteten Label allerdings an die BMG-Ariola verkauft; man wolle sich wieder auf die Produzententätigkeit konzentrieren, heißt es).

2 Unlimited

Für das Funktionieren des Frankfurter Prinzips ist aber noch ein weiterer Faktor entscheidend: Austauschbarkeit. Die Gruppen sehen sich verdammt ähnlich, bestehen meist aus einem Rapper und einer Soul-Stimme, und wenn ein Gesicht ersetzt werden muß, ist das nicht weiter tragisch.

Die Praxis stammt nicht aus Frankfurt. In den Siebzigern war München, genauer gesagt Frank Farian und sein Projekt Boney M. die deutsche Variante des Disco- Fevers. Dieses Erfolgsprinzip – Produzent heuert mit Authentizitäts-Versprechen ausgestattete Gesichter, Stimmen und Sounds an und konstruiert aus ihnen eine Corporate identity – wurde mit Snap runderneuert.

Hatten Anzilotti und Münzing zunächst nur ein reines Dancefloor-Ding chartsfähig machen wollen, mauserte sich ihr Projekt zu einem richtiggehenden Markennamen – trotz des Kommens und Gehens. „The Power“, der erste Riesenerfolg, war noch mit der Sängerin Jackie Harris eingespielt, aber schon auf der nachfolgenden LP wurden die Gesangsparts von Penny Ford übernommen (danach schied auch sie aus).

Snap-Rapper Turbo B. hielt sich ein bißchen länger als Harris und Ford; erst nachdem er 1992 im Vorfeld am Hitpotential von „Rhythm is a Dancer“ gezweifelt – und das Stück nur widerwillig mit seinem legendären „I am serious as cancer when I say rhythm is a is a Dancer“ verziert hatte –, war auch seine Zeit abgelaufen. „Rhythm is a Dancer“, gesungen von Thea Austin, wurde dann zum größten Snap-Hit überhaupt. Aber schon 1993 stand wieder jemand anderes hinter dem Mikro; die letzten beiden Snap-Hits „Exterminate“ und „Do You See The Light“ sang die Madonna-Tänzerin Niki Harris. Und wie man hört, werden die Gesangsparts des im Herbst erscheinenden Snap-Albums „Welcome To Tomorrow“ von nochmals anderen Angeheuerten übernommen.

Sklaven des Rhythmus

Wirklich bemerkenswert, wie es den beiden Produzenten im Hintergrund gelungen ist, das Publikum trotz dieser erheblichen Eingriffe in das „Gesicht“ des Projekts Snap bei der Stange zu halten.

Vielleicht illustriert eine Reifenwerbung von Pirelli das Erfolgsrezept der Snap-Macher: „Power is nothing without control“, steht quer über dem Foto, das einen schwarzen Sprinter in Startpose zeigt. An den Füßen trägt er allerdings keine Laufschuhe, sondern knallrote, hochhackige Pumps. Die Kraft des Schwarzen, die ohne die Kontrolle des unsichtbaren (nur in Schrift und „Stil“ präsenten) weißen Herrn ihr Ziel verfehlt, der Unberechenbarkeit einer durch das lotterhafte Lackrot symbolisierten „weiblichen“ Leidenschaft ausgeliefert ist – klar, welche Phantasien angepeilt sind.

You Got The Power

Daß es Carl Lewis ist, der hier abgebildet ist, bleibt zweitrangig; er ist auf sein Schwarzsein reduziert. Seine vorläufige symbolische Kastration durch die „weibliche“ Einkleidung allerdings wird durch das Versprechen der Kontrolle wieder aufgelöst. Und genau so funktioniert das Snap-Prinzip, das von 2 Unlimited über 24-7 und Cappella bis Culture Beat (ebenfalls ein Frankfurter Projekt, produziert von Thorsten Fenslau, der im Frühjahr bei einem Autounfall tödlich verunglückte) viele Nachahmungen gefunden hat.

Die Musik, für die diese Projekte stehen, nennt man von seiten der Macher nüchtern „Eurodance“, bei den Ravern von der Basis und aus dem Underground, ja sogar unter einigen Beteiligten spricht man jedoch abfällig von „Kirmestechno“. Die Rapper scheinen zu ahnen, daß sie die Schiffsschaukelbremser abgeben sollen, daß sie nicht Herr des Beats sind, der doch eigentlich ihren Rhyme tragen soll. Und deshalb sind sie wohl alle, ob Turbo B. oder Jay Supreme von Culture Beat, schwerstens darum bemüht, besonders hart und hochfahrend „maskulin“ zu rappen, wenn ihnen ihre dekorative Stelle im Stück zugewiesen ist. Aber mehr wird von ihnen auch nicht verlangt, sie repräsentieren das „authentische“ Ghetto-Härte-Geräusch, das die „authentische“ Soul-Leidenschaft der Frau im Refrain kontrastieren soll.

Trotzdem wäre es zu einfach, Snap und auch Culture Beat als bloße Imitationen „echter“ US- Dancekultur, als Ausgeburten der Hirne saturierter weißer Musikproduzenten abzutun. Es gelingt den Sängerinnen hin und wieder, dem einen oder anderen Track einen Überschuß an direkter Präsenz abzutrotzen – zum Beispiel Niki Harris im Snap-Titel „Exterminate“ oder Tanja Evans in „Anything“ von Culture Beat, wo mit beeindruckender Dichte dieses merkwürdig zwischen Anklage und Abhängigkeit changierende, expressionistische „... Shall I let the green grass turn black for you“ intoniert wird.

Aber auch den Machern kann man zumindest für einen Teil der Titel nicht absprechen, daß sie aktuelle Popdynamiken registrieren und so auf den Punkt bringen, daß

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es nicht nur in ihren Kassen klingelt, sondern – wenn auch selten – eine Minimalisierungs-Spielart, die edle Einfalt des Pop erreicht wird (ich kann „Rhythm is a Dancer“ immer noch etwas abgewinnen).

Rückkehr der Ikone

Und die Entwicklung geht weiter. Seitdem die Snap-Produzenten weg sind, haben Logic Records einen alten Begriff für sich entdeckt: den des Künstlers. Der Berliner Cosmic Baby, der seinen Technotrance-Stücken mit Eric-Satie- und Debussy-Anleihen französelnde Träumerei induziert, soll als eine Art Techno-Jacques-Offenbach etabliert werden. Das zweite große Projekt in der Absicht, längerfristige Perspektiven mit dem beschworenen „Künstler-Prinzip“ zu entwickeln, sind die jüngst unter Vertrag genommenen US-Veteranen Sparks, die schon in den 70ern den Blueprint für die späteren Sänger-plus-Verrückter-am-Keyboard-Duos wie Erasure oder Pet Shop Boys abgaben.

Neben dem Trial-and-error-Gesetzen folgenden Riesen-Output an Techno-Maxis (mit eigenem Verteiler werden DJs bemustert, und was diese auf mitgelieferten Fragebögen als Hit-Aspirant einstufen, wird schnellstmöglich nachgepreßt und auf den Markt gepusht) setzten Logic Records also verstärkt auf die ikonisierende Variante des Pop: Man trägt wieder Gesicht.

Inzwischen ist die Technokultur, die einmal pompös das Autorprinzip verabschiedete, selbst davon eingeholt: Die Frankfurter Sven Väth, DJ Dag und Mark Spoon, die Berliner Marusha, Cosmic Baby und Westbam sind Popstars im alten Sinne; während die Underground-Aktivisten, die sich dem Starsystem immer verweigert haben (und die es selbstverständlich auch in Frankfurt gibt), mit den Zähnen knirschen.

Roboter & Harlekins

Doch Frankfurt ist nicht nur Logic Records oder Sven Väth, der gerade zu einem neuen Streich ausholt („The Harlekin, The Robot And The Ballet-Dancer“ heißt seine just erschienene CD). Einer der momentan umtriebigsten und erfolgreichsten Produzenten in Frankfurt ist Rolf Ellmer alias Jam El Mar; in nicht weniger als drei charttoppenden Projekten ist er der entscheidende musikalische Impulsgeber: den beiden Trance- Dance-Acts Jam & Spoon (zusammen mit DJ Mark Spoon alias Markus Löffel) und Dance II Trance (zusammen mit DJ Dag Lerner) sowie dem Eurodance-Ding B.G. the Prince of Rap. Daneben hat Ellmer sich zusammen mit Spoon zum international gefragten Remixer entwickelt, arbeitet unter anderen für Dr. Alban, Stereo MCs, Frankie Goes To Hollywood oder sogar die Pet Shop Boys.

Das Know-how kommt bei Eurodance zwar primär vom Auflegen, doch technisches Wissen ist auch nicht verachtet: Als an der Hochschule ausgebildeter Spezialist für elektronische Musik war Ellmer zunächst überhaupt nicht Teil der Frankfurter Dance-Szene. Erst als er, mehr durch Zufall, mit dem im Dorian Gray auflegenden Dag zusammenkam, zeigte sich seine Fertigkeit als ideale Ergänzung zum direkt am Zielpublikum empirisch ausgebildeten Hit-Gespür des DJs. Gleich ihre erste gemeinsame Maxi als Dance II Trance, „We Came In Peace“, wurde ein ansehnlicher Clubhit. Und letztes Jahr waren dann mit „Power of American Natives“ die Charts in ganz Europa reif.

Obwohl der Erfolg – mehr noch als bei „Rock“ und seinen Spielarten – Bestandteil der Ästhetik dieser Musik ist, existiert ein eigenartiger Ehrenkodex: „Ich würde nie einen Track veröffentlichen, wo ich denken würde, das ist so peinlich, daß ich mich dafür schämen müßte“, gesteht Ellmer. „Bei der kommerziellen Musik gibt es auch die Faszination, daß du vor deinem Mischpult sitzt und merkst: Oh, das hat ein totales Hitgefühl. Du merkst, das ist jetzt ein sehr gut gemachter Popdance-Titel und das ist natürlich auch eine Aufgabe. Daß diese Musik nicht besonders innovativ ist, ist klar, soll sie auch nicht sein und ist sie auch in den seltensten Fällen.“

1.200 Beats per minute

Ellmer alias Jam macht im Gespräch keinen Hehl daraus, daß vor allem B.G. the Prince of Rap ein völlig durchkalkuliertes Kommerz-Ding ist. Das geht so weit, daß aktuelle Hits darauf abgehört werden, welche Durchschnittszahl an Beats per minute momentan das Tempo auf den Tanzböden bestimmt: „... dann merkst du, aha, momentan bewegt sich alles zu zwischen 132 und 148. Die ersten 2 Unlimited-Titel waren über 140 angesiedelt, und der Hit von Marusha hat fast 160. Man schaut da schon drauf, denn wenn man einen ganz tollen Titel macht, der auf 120 B.p.m. läuft, sagen alle Leute: ist zwar ein wunderschöner Titel, aber da tanzt kein Mensch drauf.“

Um das zu vermeiden, werden die Tracks nach dem Test am Tanzboden sogar, wenn nötig, noch mal verändert: „Wir schauen, ob der Mix über eine Disco-Anlage okay klingt. Und auch, ob der Ablauf des Stückes stimmt: Wenn man zum Beispiel merkt, daß den Leuten bei einer bestimmten Stelle die Beine müde werden, macht man die eben ein bißchen kürzer, oder ein toller Part muß viel früher kommen.“

Daß die Frankfurter Hitmaschinerie durch die beträchtliche Anzahl rein cluborientierter Produktionen (von sehr schnellem Trancetechno auf Sven Väths Kult-Label Harthouse über Ambient-Soundtapeten bis hin zu den teilweise wirklich experimentellen Breakcore-Tracks) mehr ergänzt als bekämpft wird, haben jetzt auch die Stadtväter erkannt. Neben Oper und Goethe war auch ein Riesen-Rave Bestandteil der 1.200-Jahr-Feier am vergangenen Wochenende. Fast alle einschlägigen Star-DJs legten in der eigens abgesperrten zentralen City-Verkehrsader, dem Theatertunnel, schwarze Scheiben auf. Titel des Raves: 1.200 B.p.m.