„Das sind andere Zigeuner als wir“

Im polnischen Gorzów treffen sich Roma-Ensembles zum internationalen Festival / Die armen Verwandten aus Rumänien bleiben auf der Müllkippe  ■ Aus Gorzów Bascha Mika

Wäsche von der Leine, Hühner in den Stall, Kinder ins Haus, die Zigeuner kommen! Doch in Gorzów tanzt die Wäsche auf der Leine, die Hühner drehen sich am Grillspieß, die Kinder toben auf der Straße. Und wo sind die Zigeuner?

Der kleine Dreckfink wackelt auf kurzen Beinen, macht ein paar schwankende Schrittchen, greift nach dem langen Rock der Mutter, plumps, da sitzt er. Mit blankem Hintern auf einem grünen, feuchten Teppich. Über ihm erhebt sich das Gerippe eines Zeltes. Ein paar Äste in den Boden gerammt, eine Stange als Rückgrat, darüber Pappe und Plastikplanen. Eineinhalb Meter hoch, zweieinhalb Meter lang: Wohnsitz einer ganzen Romafamilie. Der grüne Teppich ist vor dem Eingang ausgerollt, als wäre er ein roter. Willkommen auf dem Müll! Die Kippe von Gorzów ist Zufluchtsort für rumänische Flüchtlinge.

Fünfzehn Kilometer entfernt. Die Innenstadt von Gorzów. Ein völlig anderes Szenario. Der Barde auf der Bühne des Amphitheaters erhebt klagend die Stimme, schluchzt und jammert ins Mikrophon, daß es seine Freude hat. Eine zittrige Mandoline begleitet seinen melancholischen Gesang. Schwarzhaarige Frauen in langen, bunten Röcken, wiegen sich im Hintergrund. Zigeunerfolklore, so kitschig, daß sie schon wieder schön ist. Willkommen bei „Romane Dyvesa“! Dem internationalen Treffen von Roma-Ensembles in Gorzów.

Das polnische Gorzów, ehemals Landsberg an der Warthe, ist eine mausgraue Stadt. Doch einmal im Jahr bekommt die Hauptstadt der Wojewodschaft einen Schuß Farbe und sogar ein bißchen Glitzer: beim alljährlichen Zigeunerfestival. In diesen Tagen wurde es zum sechsten Mal veranstaltet.

„Ich pflege die Zigeunerkultur“, erzählt der Organisator und Roma-Poet Edward Debicki, „um mich in dieser Welt nicht zu sehr zu verlieren.“ Ganz selbstverständlich benutzt Debicki den schillernden Begriff „Cygan“, Zigeuner; der hat ganz sicher nichts mit dem Wort „ziehen“ zu tun, sondern leitet sich vermutlich aus dem griechischen Wort „athinganoi“, „die Unberührbaren“ ab. Deutsche Sinti lehnen die Bezeichnung ausdrücklich ab; sie ist von den Nationalsozialisten rassistisch verwendet worden. Doch für die osteuropäischen Roma ist sie alltäglicher Sprachgebrauch und wird auch im Europarat verwendet.

Debicki gehört zum Stamm der Polska Roma, die sich schon 1947 in Gorzów niedergelassen haben. 30 Familien leben in dieser Stadt mit ihren 120.000 Menschen, denn sie ist, wie der Dichter sagt, „den Zigeunern wohlgesonnen“. Auch bei den anderen Stämmen in Polen ist das Wanderleben lange vorbei. Die 15.000 polnischen Roma, die der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten entgangen waren – vor dem Krieg lebten hier 50.000 – wurden von der polnischen Regierung ab 1964 zur Seßhaftigkeit gepreßt.

Vorher waren sie in buntbemalten Wagen durch die Lande gezogen. Flickten Kessel, machten Schmiedearbeiten, trieben Kleinhandel. Doch wie fast überall zogen die Vorurteile mit: „cyganić“ heißt im Polnischen „betrügen“. Und wie im deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik ertönte auch in Polen oft genug der Ruf: „Wäsche von der Leine, Hühner in den Stall ...“

Dem kommunistischen Regime war das Wandervolk als schwer zu kontrollierende Minderheit suspekt. „Ambivalent“ nennt der Vorsitzende der Vereinigung der Roma in Polen die Behandlung durch die Behörden. Ein wenig euphemistisch, aber Andrezej Mirgan weiß, daß es in anderen Ländern noch schlimmer war. „Wir gingen tausend Jahre den Pfad, der dem Tod näher war als dem Leben, immer sind wir der Verfolgung und Zwangsassimilation ausgesetzt gewesen, ohne Recht auf eigenes Heim und Grab.“ So blumig sagt es Rajko Djuric, der Vorsitzende der Internationalen Roma-Union.

Trotzdem haben die Stämme versucht, ihre Tradition zu bewahren. Romantisch, wie der Mythos verbreitet, ist an der Überlieferung allerdings wenig, schon gar nicht die traditionelle Stellung der Mädchen und Frauen. Doch über ihre Sitten reden die Roma höchst widerwillig. Nur Musik und Tanz dienten schon immer der Verständigung mit den „Gadsche“, den Nicht-Roma. Wie in Gorzów.

Nicht viele der Einwohner wissen, daß Zigeunerfamilien seit über dreißig Jahren mit ihnen leben. Aber alle kennen das Zigeunerfestival: „Cygan – super!“ Sänger und Tänzer aus der halben Welt kommen zu diesem einzigartigen Treffen an der Warthe. Begleitveranstaltungen, wie eine Ausstellung zur Geschichte der Roma-Kultur und ein Symposion der deutsch-polnischen Gesellschaft, Brandenburg, werden angeboten. Unter den ZuschauerInnen finden sich Zigeuner aus ganz Polen, Vertreter von Roma-Organisationen und natürlich Gadsche aus Polen und Deutschland.

Nur die rumänischen Roma, die zwischen den verrottenden Resten der Stadt vegetieren, sind nicht zum Fest geladen. Wer liebt schon die armen Verwandten?

Fragt man die Fahrer der Müllautos aus Gorzów nach den Bewohnern der Abfallberge, weisen sie einem ganz selbstverständlich den Weg zu den Lumpenbehausungen. „Ja, ja, die wohnen da in diesem Busch.“ Von Verachtung ist nichts zu spüren.

Zwischen schlammigen Pfützen stehen acht Zelte. Haufen aus Klamotten liegen davor, ein, zwei Kohlköpfe, ein halbes Brot in einer Plastikschüssel, ein Topf Margarine. Ein schwelendes Feuer treibt stinkig-beißenden Qualm in Augen und Nase. Ein paar Frauen gucken neugierig aus ihrer Behausung, lächeln – und bleiben stumm. Sie sprechen kein Polnisch. Zehn Frauen leben hier, zehn Männer, zwanzig Kinder. Sie kommen aus Albayule, seit zwei Wochen wohnen sie auf dem Müll. Der kleinste Bewohner ist ein knappes Jahr; er krabbelt auf den durchweichten Teppichresten, mit denen die Unterkünfte ausgeschlagen sind. Die Plastikplanen sind ein erbärmlicher Schutz gegen das naßkühle Wetter, sie halten den Regen nicht ab.

„Das ist ein gutes Leben hier“, sagt der junge Roma, der gerade herangestiefelt kommt. „In Rumänien“, meint er und zupft an seinem erstaunlichen, bowlerähnlichen Hut, der so gar nicht zwischen den Unrat paßt, „war es viel schlimmer.“ Sicher, der Regen. Und beim Betteln würden seine Frau und seine Kinder am Tag höchstens 25.000 Zloty verdienen, wo doch schon ein Brot 6.000 koste. Doch er fühle sich wohl. Sieht man sein zufriedenes Gesicht, glaubt man ihm das sogar.

Früher, bevor das Ceausescu- Regime ihre Siedlung niederbrennen ließ, waren die Familien seßhaft. Doch seit langem, sagt der Roma, habe er in Rumänien keine Arbeit mehr gehabt – „Ich kann alles, hab eine Universalausbildung“ – außerdem sei man dort als Zigeuner seines Lebens nicht sicher. Er zeigt auf die Zivilisationsreste von Gorzów: „Hier ist der beste Platz.“ Es gibt zwar keine Arbeit für ihn, aber auch keinen Ärger. Weder mit den Behörden noch der Polizei.

Noch nicht. Die Familien wollen bald nach Rumänien zurückkehren. Nach Polen können sie zwar ohne Visum einreisen, dürfen aber nur 90 Tage bleiben. Sonst ist die Polizei nicht mehr so großzügig.

Gehen sie zum Zigeunerfestival nach Gorzów? Der Roma stutzt, dann lächelt er höflich, verständnislos. Ja, gehört habe er davon. Aber hingehen?

Der Fiedler im Amphitheater packt seine Geige, legt los, wird schnell, schneller, höher und noch höher. Das Publikum klatscht sich begeistert die Hände trocken. Es gießt. Das stört kaum jemanden. Eben noch schien der Geiger zu alt, um den Bogen länger zu halten, jetzt fängt er auch noch an zu tanzen. Wie ein Kosak tobt er über die Bühne. Nicht umsonst heißt die Gruppe aus der Ukraine „Romany Jag“, Roma-Feuer.

Gorzów hat seine eigene Folklore-Gruppe „Terno“. Der 16jährige Dziane und sein Freund Martin gehören dazu. Den Zigeunern geht es gut in der Stadt, erzählen sie. Sie treffen sich in der Disco mit den polnischen Jugendlichen, nur wenn es um feste Beziehungen geht, schieben die Eltern einen Riegel vor: eine Gadsche darf nicht geheiratet werden.

Würde der rausgeputzte Dziane denn eine rumänische Roma heiraten? Irritiert verzieht er den Mund. „Aber, nein!“ Gehört haben die beiden Schüler zwar schon von den Rumänen auf dem Müll, aber so genau wollen sie von ihnen nichts wissen. „Das sind doch andere Zigeuner als wir.“ Alles sei anders, selbst die Sprache. „Viele denken, wir sind alle dieselben Zigeuner. Dadurch kriegen wir Probleme.“

Mehrmals in den letzten Jahren wurden Roma von polnischen Skins überfallen. Anders als in Deutschland reagierten Polizei und Justiz zwar prompt, aber die Angst bei der Minderheit ist geblieben. Durch die bettelnden Rumänen, die zu Hunderten im Land sind, fallen die Zigeuner wieder auf, werden sichtbar. Und sofort sind die Bilder im Kopf der Mehrheitsbevölkerung wieder da: die Vagabunden, Faulenzer, Betrüger. Die seßhaften Zigeuner beäugen die Neuankömmlinge deshalb höchst kritisch. Sie fürchten um ihren Frieden, um ihre mühsam errungene, stark assimilierte – doch dadurch sozial akzeptierte – Stellung. „Wir können den anderen nicht helfen“, sagt Martin, „ihre Probleme sind die der anderen Zigeuner.“

Ihnen graust vor dem alten Ruf: Wäsche von der Leine, Hühner in den Stall, Kinder ins Haus, die Zigeuner kommen!