■ Vor der heißen Wahlkampfphase
: Das alte Undenkbare

„Das Undenkbare denken“ war im Dezember 1993 ein vielbeachteter Text überschrieben, der die Untergangsstimmung der Union ausleuchtete und ziemlich überzeugend nahelegte, daß der Handlungsspielraum der Konservativen im großen Wahljahr sich auf bloße Retuschen am programmierten Debakel reduziere. Sensationeller noch als der profunde Text war sicher dessen Erscheinungsort, die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Wenn selbst die Konservativen jetzt offen aussprachen, daß sich die Ära Kohl allem Ermessen nach ihrem katastrophischen Ende zuneigte, mußten auch die nach oftmaligen Fehlprognosen vorsichtig Gewordenen ein neuerliches Kohl-Comeback abschreiben.

Doch weil wir gerne aus schmerzlichen Fehlern einen wie immer gearteten Gewinn ziehen wollen, hatte just zu dieser Zeit eine bemerkenswerte Übertragung Konjunktur: Kohls politisches Ende fest im Blick und dennoch nicht restlos überzeugt vom politischen Gewicht seines auch nicht gerade inspirierend wirkenden Herausforderers, sollte sich bei der Beurteilung von dessen Zukunftsaussichten keinesfalls wiederholen, was gegenüber Kohl lange zum falschen guten Ton gehört hatte. „Nicht unterschätzen“ lautete dehalb die Devise, wenn einem zu Rudolf Scharping nicht viel einfiel. Doch während sich die Öffentlichkeit darauf konzentrierte, dem SPD-Herausforderer gerecht zu werden und, wo's mal schwerfiel, seine politische Entpuppung im Gefolge von Brandt und Schmidt zu antizipieren, nahm die bittere Ironie ihren Lauf. Sechs Wochen vor der Wahl reflektieren die Prognosen nur wieder das alte Undenkbare: Kohl obenauf und vor der fünften Kanzlerschaft.

Man ahnt, daß erst die Debatten vom Jahresbeginn, als Optimisten den möglichen Zeitpunkt des Kohl-Sturzes – unmittelbar vor oder kurz nach der Europawahl? – eruierten und die Mutigeren in der Union dafür plädierten, den Kanzler im Wahlkampf wenigstens in einer Mannschaft zu verstecken, der jüngsten PR-Idee aus dem Adenauerhaus ihre volle, schlichte Werbewirksamkeit verschaffen: Kohl unter Menschen, ohne Worte, ohne Parteisignet. Ein später, gewitzter Tribut der Union an die Parteienverdrossenheit? Die neuerliche Abbitte innerparteilicher Zweifler? Egal, die Partei wirbt mit ihrem letzten um so größeren Pfund. Bevor der Kanzler verschwindet, verschwindet die Union. Die Partei, der Kanzlerwahlverein, das bloße Organon, akzeptiert in ultimativer Form, diesmal ganz sinnfällig, ihr Schicksal. Noch die Not des Verschwindens gerät ihr zur offensiven Geste.

Die Union darf neuerlich auf einen grandios inszenierten Aufschub hoffen. Doch selbst mit der Prognose, daß irgendwann auch diese Kanzlerschaft zu Ende geht, daß dann die erodierte Partei die Hypotheken der Ära abtragen muß, lassen sich die politischen Rache- oder, netter formuliert, Gerechtigkeitsbedürfnisse kaum mehr stillen. Denn wie es aussieht, wird Kohl dann ja nicht nur die Enkelgeneration seiner eigenen Partei verschlissen haben. Zu spät jedenfalls, so scheint es, hat die SPD bei der jüngsten Kampagne für ihren fünften Kanzlerkandidaten in Folge das Risiko realisiert, mit Kohl ausschließlich auf dessen ureigenstem Feld zu konkurrieren. Sicherheit, Verläßlichkeit, ein „Weiter so“ mit neuem Gesicht, kurz: die von Scharping und seinen Helfern lange präsentierte Hauptbotschaft haben die Sozialdemokraten in eine fatale Engführung gebracht.

Erprobt wurde dies nicht erst mit Scharping, sondern schon am Ende der Asyldebatte, als die SPD plötzlich die „Belastungsgrenze der Bevölkerung“ zum zentralen Maßstab ihrer politischen Entscheidung erhob, vor dem die aufklärerischen und reformerischen Impulse nur noch in riskantem Licht erschienen. Doch mit der neuen Bescheidenheit wurde, wie sich jetzt zeigt, weniger neue SPD-Qualität vermittelt als vielmehr die Botschaft des Originals neuerlich legitimiert. Während die jetzt ohne störendes verbales Beiwerk unter die Leute gebracht wird, fehlt der verspäteten Reformbotschaft der Sozialdemokratie jegliche Verbindung zur bisherigen Kampagne wie zur Realität vor dem Wahlherbst. Selbst im Detail hatte die SPD im Wahljahr jeglichen Wagemut vermissen lassen. Noch die harmlose Programmdebatte ums Tempolimit, in der die reformfreudigeren Genossen ein zeitweiliges Refugium gefunden hatten, mußte dafür herhalten, die flausenlose Autorität des Vorsitzenden zu demonstrieren. Daß den Genossen dann im Zuge einer beispiellosen Torschlußpanik die waghalsigsten Kehren gerade passend erschienen, hat weniger Deutschlands Freude auf den Wechsel entfacht als neue Irritationen an ihrer Politikfähigkeit befördert.

Im Windschatten der oppositionellen Misere gerät die Frage nach der Politikfähigkeit der Union vollends aus dem Blick. Von einer Debatte um deren Wahlprogramm jedenfalls war nie die Rede. Nicht der Rede wert? – Auch das ist eine der untergründigen Botschaften einer Wahlkampagne, die noch den Mangel zukunftshaltiger, politischer Argumente zur Tugend erhebt und mit dem Vertrauensbonus des Amtsinhabers alle anderen Fragen wegdrückt. Nicht als Debatte um die stornierten Reformen und die Risiken vermeintlicher Sicherheit, sondern als republikweite Talk-Show über das Mysterium des Kohlschen Erfolges beginnt die heiße Wahlkampfphase. Demütig präsentiert die deutsche Politik ihr ultimatives Motto: Es lebe die Psychologie! Matthias Geis