Castro: In Kuba ändert sich nichts

Zum ersten Mal seit Beginn des Massenexodus äußerte sich der máximo lider über sein Land / „Vollständige und ernste Krise“, aber Konsequenzen hat das natürlich keine  ■ Aus Havanna Thomas Rahn

Immer wieder war über Radio und Fernsehen die Nachricht verkündet worden: Heute abend wird Comandante Fidel Castro sprechen und „Aspekte der nationalen Realität analysieren“. Die Realität – das ist eine ungebrochene Massenflucht, eine niederschmetternde Rette-sich-wer-kann-Stimmung und eine völlige Ratlosigkeit, wie es weitergehen kann in diesem Land. Zu alledem bislang ein offizielles Schweigen. Nun würde Fidel reden.

„Er wird die Grenzen wieder dicht machen“, sagt R. „Die Fluchtbewegung ist einfach zu heftig, das hält niemand politisch durch, und das weiß Fidel auch.“ „Er muß jetzt große Maßnahmen ergreifen“, meint L. „Du wirst sehen, so oder so kommen Reformen, die Bauernmärkte werden wieder zugelassen, vielleicht auch die neue Währung. Castro muß das machen, und er wird es machen.“ P. ist pessimistisch: „Fidel ist aus Oriente, dem Osten Kubas, und er hat Havanna immer gehaßt. Und jetzt hat Havanna ihm den Gehorsam aufgekündigt, und nun werden wir die Rache erleben. Die Rede wird sein: Repression, Repression, Repression.“

War sie nicht. Nichts von alledem. Castro hat anerkannt, daß man gegenwärtig von einer „vollständigen und ernsten Krise“ sprechen könne und daß es tatsächlich einen „Massenexodus“ gibt. Aber er hat keinen Satz darüber gesagt, wie es in Kuba weitergehen soll, außer daß er felsenfest davon überzeugt ist, daß „die immense Mehrheit des Volkes bereit ist, allem zu widerstehen“. Zweieinhalb Stunden hat der Fernsehauftritt am Mittwoch abend gedauert, und seine einzige Botschaft ist: In Kuba ändert sich nichts. Ändern muß sich nur die Politik der USA.

Drei Viertel seiner Rede verwandte Fidel Castro darauf, noch einmal die Freigabe der Flucht seiner Landsleute über das Meer zu rechtfertigen: „Auch kein anderes Land in Lateinamerika verfolgt schließlich die Leute, die auswandern.“ „Und warum hat die kubanische Regierung genau das mehr als 35 Jahre lang getan?“ fragt P. hilflos in den Fernseher, von dem er keine Antwort erhält. „Und warum haben die Leute, die jetzt übers Meer fliehen, bis heute nicht das Recht, nach ihrer ,illegalen Flucht‘ wieder nach Kuba einreisen zu dürfen?“

Erstmals gab Fidel Castro am Mittwoch den Kubanern das Ausmaß des Flüchtlingsdramas in Zahlen bekannt: 1.293 „balseros“, Bootsflüchtlinge, hat die US-Küstenwache am 21. August geborgen, 2.548 am 22., 3.253 am 23. Und erstmals nannte er auch die Zahlen der balseros, deren Flucht von der kubanischen Küstenwache verhindert worden ist: 1993 mehr als 11.000, und noch einmal 10.905 allein in den ersten sieben Monaten von 1994; in den vergangenen viereinhalb Jahren haben die kubanischen Küsten- und Ordnungshüter nicht weniger als 37.801 Kubaner auf „illegaler Flucht“ gestellt und ihrer gerechten Strafe zugeführt. „Er erzählt auch das noch wie einen großartigen Verdienst der Revolution“, empört sich P. „Daß er sich gar nicht schämt, stundenlang vorzulesen, wie viele Tausende Kubaner aus ihrem Land abhauen, weil sie's nicht mehr aushalten.“ Aber Castro selbst nennt ja „die drei Gründe für den Massenexodus“: Die Blockade der USA; die Mißachtung des Immigrationsabkommens von 1984 durch die USA; und die Anstachelung zu illegaler Flucht durch Radiosender der USA. Kuba kann nichts dafür.

Und auch die fünf kubanischen Journalisten, die das – so Castro – „heilige Privileg“ hatten, dem Comandante im Anschluß an seine Rede Fragen stellen zu dürfen, fragten nichts, was eventuell mit kubanischer Politik hätte zu tun haben können. Die vielleicht eindrucksvollste: „Comandante, wieviel, denken Sie, kostet den US- amerikanischen Steuerzahler das ganze Aufgebot an Kriegsschiffen und die Internierung der kubanischen Flüchtlinge in Guantánamo?“ Es ist schwer, eine Frage zu finden, die den Menschen in Havanna gerade weniger unter den Nägeln brennt.